- 102 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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»Die Katastrophen koinzidieren mit den Höhepunkten. Manchmal klingt es, als ob im Augenblick des endlichen Feuers die Menschheit noch einmal aufglühte, die Toten noch einmal lebendig würden. Glück flammt hoch am Rand von Grauen. Der erste Satz des Lieds von der Erde, in der gleichen Tonart, hat dann auch dem poetischen Vorwurf nach beides in eins gedrängt und damit den Dur-Moll-Wechsel erst ganz enträtselt. Musik selber zieht ihre parabolische Bahn, kein von ihr gemeintes Menschenwesen, gewiß kein Einzelner.«91
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Ebd., S. 166.

»Im Finale der Sechsten, unmittelbar vor der letzten Wiederkehr des Einleitungsfeldes, die schon die Coda ist, intonieren die Blechbläser noch einmal eines der Hauptmotive des Satzes und sequenzieren es, vier Takte vor dem endlichen Schlag. In diesen Takten ist das Gefühl des Gleichviel, des Gelingens im Angesicht des Untergangs, über das dieser nichts mehr vermag, mit äußerster Sinnfälligkeit, so unmißverständlich wie je das gesprochene Wort präsent, doch ohne alles musikfremd Literarische, dem Formverlauf Äußerliche. Was gesagt ist, wird ganz in der Sprache der Musik gesagt, vermöge ihrer eigenen Sprachähnlichkeit, nicht durch Pseudomorphose an Bilder und Begriffe. Kein anderer Komponist hat das je so vermocht wie Mahler. Daher rührt seine utopische Farbe: als wäre er dicht ans Geheimnis herangerückt. Er verheißt, Musik, die das von Worten Unaussprechliche spricht, aber stets wieder es verliert, weil sie keine Worte hat, könne es doch buchstäblich sagen.«92

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Adorno, Epilogema, Gesammelte Schriften Bd. 16, S. 343f.

Hier schlägt sich Adornos Grundposition nieder, Mahlers Musik von der Programmusik, aber auch von der bisherigen absoluten Musik abzugrenzen. Entsprechend müssen auch seine Ausführungen zur Sechsten verstanden werden. Es geht ihm nicht um eine programmatische Interpretation der Musik. Die Metaphern dienen vielmehr dazu, musikalische Sachverhalte verbal zu veranschaulichen. Kriegsmetaphorik zieht er dabei vor allem für den Marschrhythmus des ersten Satzes und im »Elektrisierenden der Militärkapellen« der vierten Satzes heran. Im Katastrophenschluß sieht er den Untergang der Menschheit im Feuer, was sich zwar nicht zwingend, aber angesichts der erlebten Realität von 1945 naheliegend auf kriegerische Zerstörung beziehen läßt. Überhaupt mag es unorthodox erscheinen, bei Adorno eine Grundinterpretation einer Symphonie festzumachen, die in dieser Form gar nicht zum Ausdruck gebracht worden ist, sondern sich nur aus verstreuten Passagen zusammenbündeln läßt. Es geht ihm nicht darum, einzelne Werke Mahlers zu kommentieren, sondern dessen Symphonik in der Totale zu erhellen, was Redlich im übrigen an dem Buch bemängelte93

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In seiner Rezension in: Die Musikforschung 19 (1966), S. 223f.
. Es fällt aber ins Auge, daß die Metaphern, die er um die Sechste gruppiert, weitgehend der gleichen Vorstellungswelt entstammen, dem Krieg und dem Untergang. Insofern darf es berechtigt sein, Adorno anders zu lesen als gewöhnlich und seine Sichtweise dieser Symphonie so zu erfassen.

Im Gegensatz zu Adorno liegt bei Redlich eine zusammenhängende Interpretation der Sechsten vor, niedergelegt im Vorwort zur Eulenburg-Taschenpartitur 1968. Die in Kapitel I zitierte Interpretation, die bei Redlich den Abschluß des Abschnittes


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