- 144 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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als Redlich in der gleichen Zeitschrift über Die Welt der V., VI. und VII. Sinfonie Mahlers88
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Hans F. Redlich, Die Welt der V., VI. und VII. Sinfonie Mahlers, in: Musikblätter des Anbruch 2 (1920), S. 265–268.
reflektierte, war von diesem Gedankengang noch kaum Rede. Es heißt lediglich, daß im Finale der Sechsten Symphonie die süße Landschaft des Adagios tragisch-heroisch zusammenbreche. Der dezidierte Bezug zur Weltgeschichte bleibt hier noch aus, er läßt sich allenfalls mittelbar herauslesen. Die geistige Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg, die besonders in den späten Zwanziger Jahren geführt wurde, scheint in dem Gedankengang Redlichs von 1930 Früchte getragen zu haben.

Adorno war ebenso wie Redlich in jenem Mahler-Sonderheft des Anbruch 1930 vertreten.89

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Theodor Wiesengrund-Adorno, Mahler heute, in: Anbruch 12 (1930), S. 86–92.
Er knüpft zwar im Gegensatz zu Redlich keine dezidierte Beziehung zwischen Mahlers Musik und dem Weltkrieg; die Bilderwelt, mit der er die Sechste Symphonie umgibt, ist jedoch nicht weit von Kriegsgeschehnissen entfernt (s.u.). Auf die Wunderhorn-Lieder, die in diesem Aufsatz nicht in Rede stehen, kommt Adorno in einem weiteren Aufsatz zu sprechen, den er als Marginalien zu Mahler – unter dem Pseudonym »Hektor Rottweiler«, das er in jener Zeit des öfteren benutzte – zum fünfundzwanzigsten Todestag Mahlers 1936 in der Wiener Musikzeitschrift 23 veröffentlichte:

»Die sonst bloß sterben mußten, wenn sie aus der Reihe fielen, der zu Straßburg auf der Schanz, die nächtliche Schildwache, der bei den schönen Trompeten Begrabene und der arme Tambourg’sell: Mahler formiert sie aus Freiheit. Den Unterlegenen verspricht er den Sieg. All seine Symphonik ist eine Rewelge. Ihr Held ist der Deserteur.«90

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Zit. nach Adorno, Gesammelte Schriften Bd. 18, S. 240.

Die hier am Ende des Aufsatzes ausgedrückte Idee kommt derjenigen am Ende des Mahler-Buches sehr nahe: Die Protagonisten der Soldatenlieder innerhalb der Wunderhorn-Vertonungen werden zu Repräsentanten des Gehaltes der Mahlerschen Musik schlechthin. Der Deserteur also im Zentrum der Mahlerschen Musik – ein Gedanke, der in einer deutschen Musikzeitschrift 1936 wohl nicht mehr hätte Platz finden können. Adorno äußerte ihn in Wien knapp zwei Jahre vor dem Anschluß Österreichs. Damit ist die hier in Rede stehende Interpretation, die Mahlers Soldatenlieder mit Krieg in Verbindung bringt, ein Produkt der dreißiger Jahre, und nicht erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Der Nationalsozialismus hat dieser Interpretation einen Traditionsbruch zugefügt, indem er die Auseinandersetzung um Mahler unterband. Gleichzeitig hat er diese Interpretation durch seine Greueltaten um eine beträchtliche Facette politischer Realität erweitert und bestätigt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war es Georg Knepler, der 1952 diese Interpretation wieder aufgriff:

»Nicht weniger als fünf Lieder sind es [...], die Militärdienst und Krieg als barbarisch und menschenvernichtend brandmarken. Am eindrucksvollsten unter ihnen ist wahrscheinlich die Revelge. Die grausige Vision von den


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