- 146 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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für »ihre künstlerisch-psychologische Erklärung«93
93
Richard Specht, Gustav Mahler, Sechste Symphonie, Thematischer Führer, Leipzig o.J. (1906), S. 6.
auf sein kleines Mahler-Buch von 1905, wo es heißt:

»Verzärtelte Gemüter haben an gewissen derben Stellen des Andantes der ›Ersten‹ und an den kecken Marschrhythmen der ersten Abteilung der ›Dritten‹ Anstoß genommen. Sie gehören aber so sehr zur Physiognomie dieser Musik, daß jeder Versuch eine[r] ›Verfeinerung‹ oder Glättung augenblicklich zu einer blassen Abschwächung führen würde. [...] Es kann keinen sichere[re]n Prüfstein für die Einheit und Wahrheit einer künstlerischen Persönlichkeit geben, als daß ihre scheinbaren Mängel ein ebenso integrierender und positiv wirkender Teil seines Wesens und seines Werkes sind, als seine Vorzüge. Mahlers besitzt diese Einheit im allerhöchsten Sinn.«94

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Specht, Mahler (1905), S. 29f., die ergänzten Buchstaben fehlen im Original, es scheint sich hier um Druckfehler zu handeln.

Mit dieser Ausführung scheint Specht manches entschuldigen zu wollen, was in die Symphonie eigentlich nicht hinein gehöre. Trotz seiner Beteuerung, mit seiner Sechsten stelle sich Mahler deutlicher noch als in seinen letzten Werken auf den Boden der absoluten Musik, versucht Specht an verschiedenen Stellen eine Ausdeutung des Klanggeschehens. Diese Verfahrensweise repräsentiert Spechts Grundhaltung, daß Mahlers Musik trotz ihrer absoluten-musikalischen Prägung dezidierte Gehalte trage. Die Haltung kommt Mahlers eigener Ästhetik sehr nahe, die im III. Kapitel dargelegt wurde. Mahlers »symphonischem Cyklus« möchte man, so Specht, gerne die Gesamtüberschrift »Welt und Ich« geben.95

95
Specht, Mahler (1905), S. 30f.
Seine Gesamtsicht der Symphonie lautet:

»Der Charakter des ganzen Werkes ist trotz der heiteren Mittelsätze ein durchaus tragischer. Im ersten Satz stolzer Trotz und mutiger Ernst; im zweiten die Selige Entrücktheit einer verklärten Traumwelt; im dritten der Humor des Kontrasts zwischen rasselnder Plumpheit und behutsamer Marionetten-Anmut; im vierten aber zermalmende, grausige Wucht, gegen die sich die frohe Kampfstimmung, die aus dem 1. Satz herüberzuklingen scheint, nicht behaupten kann. Die drei Stellen, an denen, zu gewaltigem Orchesterschlag, der Hammer zerschmetternd niederdröhnt und jedesmal eine Welt zu vernichten scheint, sind von betäubend unheimlicher Macht.«96

96
Specht, Sechste, S. 7.

Bezeichnend ist hier, daß Specht von einer vernichteten Welt spricht, und nicht vom Niedergang eines Helden, einem Topos der späteren Rezeptionsgeschichte. Über weite Strecken seiner knapp 50-seitigen »Analyse« beschränkt Specht sich auf den verbalen Nachvollzug des musikalischen Geschehens und verzichtet auf Deutungen. Am Schluß der Symphonie jedoch sieht er in dem nur noch in a-Moll auftretenden Motto ein »Symbol des Unterliegens«. Das klingt ein wenig nach Adornos Schlußsatz in seinem Mahler-Buch, in dem er Mahlers Symphonien als »Balladen des Unterliegens« bezeichnete. Auch die beiden abschließenden Zitate haben Ähnlichkeit: Specht zitiert Hamlets Schlußwort »Der Rest ist Schweigen«, Adorno führt


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