I EinleitungDer rumänische Musiker Dinu Lipatti (1917–1950) ist als Komponist weithin unbe-kannt. Als Pianist hingegen genießt er bis heute höchstes Ansehen. Davon zeugen seit Mitte der neunziger Jahre u. a. einige Neuerscheinungen von bisher unveröf-fentlichten, restaurierten historischen Aufnahmen Lipattis.1 Musikalische Qualität und vielfach zugesprochene Authentizität in dem Bemühen um Werktreue üben eine Faszination aus, die sich häufig in rückhaltloser Verehrung des »Genius«2 Li-patti ausdrückt. Erstaunlich ist jedoch, dass es außerhalb dieser Bezeugungen der Bewunderung im deutschsprachigen Raum nahezu keine Veröffentlichungen über Leben und Werk Dinu Lipattis gibt. Die rudimentären Informationen zu Lebens-weg, musikalischem Werdegang und interpretatorischem Denken Lipattis be-schränken sich auf wenige Aufsätze3 und Überblicksartikel in Nachschlagewerken.4 Sie stellen in ihrer Knappheit einen Widerspruch zu dem künstlerischen Interesse dar, das Lipatti hervorruft.1Vgl. folgende CDs: Lipatti, »Les Inédits«, archiphon ARC 112/113, 1996; Brahms Walzer. Liebeslie-der-Walzer (darin: Liebeslieder-Walzer mit Nadia Boulanger und Dinu Lipatti), EMI Classics 5 66425 2, 1997; Enescu și Lipatti interpretează Enescu și Lipatti, Electrecord Romania, EDC 430 / 431, 2001; Références Dinu Lipatti, EMI Classics 5 67572 2, 2001; Dinu Lipatti: Cornerstones 1936–1950. Early and late recordings, archiphon ARC 127, 2001; »Clara Haskil und Dinu Lipatti. Hommage«, TAH 2.366–2.367.2Z. B. Morrison, Bryce: Dinu Lipatti, in: Booklet der CD EMI Classics 5 67572 2, S. 9; umgekehrt lädt die Verklärung Lipattis zu Gegenpositionen ein, z. B. »Verehrung macht bekanntlich blind […]. Man muß nur glauben, daß der Splitter vom Kreuz Christi stammt und das Weiße Rauschen von Lipatti« (Fladt, Hartmut: Lipatti-Hickhack, in: Neue Musikzeitung, Ratisbonne / München, Okt./ Nov. 1981, S. 19), in Bezug auf eine fälschlicherweise Lipatti zugesprochene Interpretation des Klavierkonzerts e-Moll, op. 11 von Frédéric Chopin, stammend von Halina Czerny-Stefańska, und der Publizierung eines Lipatti-Mitschnitts desselben Konzerts durch den Schweizer Lipatti-Kenner Dr. Marc Gertsch. 3Die Umfangreichsten sind: Meyer, Martin: Wirklichkeit und Legende, in: Fonoforum Nr. 6, Köln 1978, S. 606–609; Kohlhaas, Ellen: Ein sensibler Diener der Musik. Von seinen Zeitgenossen angebe-tet, von der Nachwelt verklärt: der rumänische Pianist Dinu Lipatti, in: Musik+Medizin. Organ für Musik und Musiktherapie. Internationale Fachzeitschrift für Medizin, Neu Isenburg, April 1982, S. 59–68; Lempfrid, Wolfgang: Dinu Lipatti – Künstler von göttlicher Geistigkeit, in: Pianoforte. Zeit-schrift für Klavier und Flügel, Augsburg 1 / 1991, S. 27–35; Rudolph, Susanne: Eine Pianistenlegende, unvergessen: Vor 50 Jahren starb Dinu Lipatti. Sanfter Heiliger? In: Musik & Theater 20, Dez./Jan. 2000/2001, Zürich, S. 18–20 (darin: Siki, Béla: Erst der Kopf, dann die Hand. Béla Sikis Erinnerungen an seinen Lehrer Dinu Lipatti, nach Gesprächen aufgezeichnet von Susanne Rudolph); Salquin, Hedy: Der Pianist als Lehrer aus Sicht einer Schülerin. Erinnerungen an Dinu Lipatti, in: Piano-News, 5 2001, Düsseldorf, S. 20–24. 4Hollfelder, Peter: Geschichte der Klaviermusik, Bd. II, Wilhelmshaven 1988, darin: Dinu Lipatti, S. 868; Breazul, George: Dinu Lipatti, in: MGG, hrsg. von Friedrich Blume, Bd. 8, Kassel 1960, Sp. 923–924; Jäger, Monika: Dinu Lipatti, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik (MGG), hrsg. von Friedrich Blume, zweite, neubearbeitete Ausgabe, hrsg. von Ludwig Finscher, Personenteil, Bd. 11, Kassel / Stuttgart 2004, Sp. 180–181.