2EinleitungDiese Diskrepanz ist in Bezug auf Lipatti als Komponisten besonders auffällig, auch wenn innerhalb der letzten zehn Jahre ein wachsendes Rezeptionsinteresse an den Kompositionen feststellbar ist. Einige Einspielungen kürzerer Werke, darunter mehrmals der Sonatine pour piano (main gauche seule), wurden veröffentlicht,5 die möglicherweise den Weg für Aufführungen weiterer, auch umfangreicherer oder noch nicht edierter Kompositionen bahnen können. Lipattis kompositorisches OEu-vre umfasst ca. 50 in Rumänien, Paris und der Schweiz entstandene Kompositionen, von Transkriptionen über Lieder und Kammermusik bis zu symphonisch angeleg-ten Orchesterwerken. Während die Edition einzelner Kompositionen in den 1950er Jahren in Paris und New York begann, wird sie in Rumänien seit den 1960er Jahren bis heute kontinuierlich mit Neuerscheinungen fortgesetzt.6Werden einzelne Kompositionen Lipattis im westeuropäischen Raum zur Kennt-nis genommen, geschieht dies häufig unter dem Etikett »komponierender Pianist« wie auch bei Wilhelm Kempff, Artur Schnabel oder Eduard Erdmann, was gewis-sermaßen eine Entschuldigung zu implizieren scheint, als herausragender Pianist zwar das musikalische Interesse für die Komposition, kaum jedoch die notwendige Zeit und das tatsächlich entsprechende Talent dazu zu besitzen. So geschieht diese Kenntnisnahme oftmals mit abfälligem Unterton,7 wozu jedoch maßgeblich bei-trägt, dass das bislang veröffentlichte OEuvre Lipattis weniger seine komplexen, sondern vielmehr seine eingängigen Werke umfasst – vor allem diejenigen, die sich bruchlos in allzu typisches Anschauungsrepertoire des Neoklassizismus und der noch verspätet-romantisierenden Nationalschulen einordnen lassen wie das Concer-tino en style classique (1936) und die Suite Șătrarii (»Wanderzigeuner«) (1934). Dass es sich hierbei zugleich um frühe Schülerwerke handelt, bleibt in der Regel uner-wähnt, und unbekannt bleiben Kompositionen, die weniger eindeutige, dafür aber eigenständige und schwerer in Kategorien zu fassende Wege und Synthesen erken-nen lassen. Hinzu kommen, wohl zurückzuführen auf Theodor W. Adorno, in der deutschen Musikwissenschaft immer noch spürbare Ressentiments gegenüber bei-den kompositorischen Richtungen.8 So schreibt Ruth Melkis-Bihler etwa in Bezug 5Vgl. die Einspielungen von Monica Gutman (CD CLA 50-9906), Antoine Rebstein (CD CLA 50-502502), Gerd Meditz (CD S 2037), Manuela Wiesler (CD BISCD 869), »Ikarus-Quartett« (SP 51717) und VIII »Diskografie«.6Vgl. IX »Werkverzeichnis«.7Z. B. Cossé, Peter: Fragen zur Legendenbildung. Dinu Lipatti als Interpret und Komponist, in: Neue Zürcher Zeitung vom 12.09.2001, S. 67: »Wie so mancher Pianist (und Dirigent) ist im 20. Jahrhundert auch Dinu Lipatti als Komponist in Erscheinung getreten, mit problematischen Resultaten.« Vgl. auch IV.2.1.2 »Concertino en style classique«.8Adorno urteilt bereits 1928 »Klassizismus« und »Folklorismus« als den Inbegriff einer »stabilisierten«, auf aufklärerisches Emanzipationsstreben zugunsten der Unterordnung unter gesell-schaftliche Ideologien verzichtende Musik ab: »Leicht lässt sich der Umkreis der stabilisierten Musik […] überschauen. Sie scheidet sich in zwei große Gruppen, die hier, grob schematisch, die klassizisti-sche und die folkloristische heißen mögen. Soziologisch ist der Klassizismus als die Form der Stabilisie-rung in den fortgeschritteneren, rational aufgehellteren Staaten zu verstehen, während die rückstän-digeren, wesentlich agrarischen Länder […] und weiter die Staaten der faschistischen Reaktion dem Folklorismus zuzählen.« (Adorno, Theodor W.: Die stabilisierte Musik (1928), in: Ders., Gesammelte Schriften Bd. 18, Musikalische Schriften V, Frankfurt 1984, S. 725.)