3auf die Rezeption des französischen Komponisten Pierre-Octave Ferroud (1900–1936), der Zeitgenosse Lipattis und befreundet mit mehreren in Paris lebenden ru-mänischen Komponisten ist: »Die Verneinung einer radikalen Neuorientierung im Tonmaterial wurde be-sonders nach 1945 meist unterschiedslos unter das Etikett ›Neoklassizismus‹ oder ›gemäßigte Moderne‹ subsumiert, Begriffe, die in ihrer Weite keine posi-tive Kennzeichnung ermöglichen, sondern aus der Abweichung von dem, was als neue Musik zur Norm erhoben wurde, unsortiertes Rest-Material machte. Hinzu kommt die zumindest im Deutschen pejorative Bedeutung der Begrif-fe.«9Einen anderen Aspekt, der die Rezeption von Lipattis Kompositionen erschwert ha-ben könnte, spricht Arthur Honegger an, wenn er sich erinnert, Lipatti habe sich»im Gegensatz zu so vielen anderen vielleicht zu streng gegen das von ihm Geschaffene [gezeigt]. […] Es war fast unmöglich, ihn dazu zu bringen, von dem zu reden, was er komponiert hatte oder komponieren wollte. In einer Art Scham vermied er dieses Gesprächsthema, und dennoch war ich, als ich noch während seiner Pariser Schülerzeit der Aufführung eines seiner Werke bei-wohnte, erstaunt über die entschiedene Persönlichkeit, die sich damals schon in ihm offenbarte.«10Folglich erscheint eine Vervollständigung des Gesamtbildes der Person Lipatti ge-boten.Eine auch für Lipatti als Komponisten bedeutsame Facette seiner Persönlichkeit liegt in der gleichermaßen ost- wie westeuropäischen Prägung und damit seiner ge-samteuropäischen Relevanz. Der Rumäne Lipatti konzertiert als Pianist von interna-tionalem Rang in den meisten Ländern Europas, absolviert seine musikalische Aus-bildung in Rumänien und Frankreich gleichermaßen und hat seine musikalischen Vorbilder in Ost und West. Zum heimatlichen Wohnort wählt er von 1943 bis zu seinem Tod 1950 die Schweiz. Die Tatsache, dass er einen solchen Werdegang mit zahlreichen osteuropäischen Musikern verschiedener Generationen, in Rumänien etwa mit George Enescu, Filip Lazăr, Marcel Mihalovici, Theodor Rogalski, Tudor Ciortea oder Valentin Gheorghiu teilt, verdeutlicht die typischen Seiten dieser Bio-grafie, die sich wiederum mit ihren individuellen Besonderheiten überlagern. Die Stilsynthese west- und osteuropäischer Strömungen in Lipattis Werk, die seinen persönlichen biografischen Hintergrund ebenso wie das allgemeine Bestreben seiner rumänischen Komponistengeneration widerspiegelt, verdeutlicht grundlegende Zu-sammenhänge zwischen rumänischer und westeuropäischer Musikentwicklung. Li-9Melkis-Bihler, Ruth: Pierre-Octave Ferroud (1900–1936). Ein Beitrag zur Geschichte der Musik in Frankreich, Europäische Hochschulschriften Reihe XXXVI Musikwissenschaft, Bd. 130, Frankfurt 1995, S. 13. 10Honegger, Arthur: Nachklang. Schriften, Photos, Dokumente, Zürich 1957, S. 84.