4Einleitungpattis Werk ist Teil der nationalen Schulen11 ost-, nord- und südeuropäischer Rand-staaten, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts in erstarkendem Geschichtsbewusstsein und kultureller Identitätssuche ihrer meist noch jungen Nationalstaaten nach zeit-gemäßen Ausdrucksformen auf der Basis landeseigener Traditionen suchen. Lipat-tis Beispiel liefert einen Erkenntnisbaustein, in welchem Maß individuelle komposi-torische Bestrebungen für die gesamteuropäische Musikgeschichte des 20. Jahrhun-derts Bedeutsamkeit erlangen: Zum einen ist die systematische Verbindung der Standards westeuropäischer Kunstmusik mit den volksmusikalischen Wurzeln des eigenen Landes auch Ausdruck der Suche nach einem national geprägten Komposi-tionsstil von gleichzeitig universeller Gültigkeit:»Stücke mit nationaler Atmosphäre können durchaus universell verstanden werden. Denken wir nur an einige große Komponisten, die im nationalen Cha-rakter ihres Landes geschrieben haben. […] Werden etwa die Mazurken von Chopin oder Petruschka von Strawinsky nur von Polen bzw. Russen geschätzt?«12 Zum anderen bedeutet die Verarbeitung von Volksmusik in Lipattis Generation kei-nesfalls eine rückwärts gewandte Orientierung. Vielmehr vollzieht sich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ein »Funktionswandel«13 in der Verarbeitung volksmusikalischen Materials, der, wegweisend geprägt durch die Arbeiten von Béla Bartók, durch Erweiterung des rhythmischen, tonalen und melodischen Spek-trums zu der Weiterentwicklung der europäischen Kunstmusik hin zur Neuen Mu-sik beiträgt. In Bezug auf Rumänien lässt sich aus der kulturellen Anbindung an Frankreich heraus zudem der spezifische Aspekt einer national übergreifenden kompositorischen Suche nach ausgeprägt »romanischen« Ausdrucksidealen im Sin-ne der »Latinité«14 erkennen, die auch Komponisten anderer romanischer Staaten mit einschließt.Die Betrachtung Lipattis als Komponist eröffnet dadurch einen weiten musikge-schichtlichen und musikästhetischen Kontext. Dabei spiegelt das Werk Lipattis nicht unbedingt eine wegweisende kompositorische Pionierleistung wider wie etwa das eines Béla Bartók oder George Enescu, Komponisten, die dadurch ihrerseits häufig als isolierte Einzelphänomene und Ausnahmeerscheinungen wahrgenom-11Ich verwende diesen Begriff im Bewusstsein der Problematik, dass ihm bisweilen etwas Diskreditie-rendes anhaftet und er oftmals der Ästhetik der einzelnen Werke nicht gerecht wird, wenn etwa aus einem Land stammende Komponisten generaliter unter dieser ebenso verallgemeinernden wie pau-schal etikettierenden Kategorie subsumiert werden.12Dinu Lipatti in einem Brief an Miron Șoarec vom 19.11.1934, in: Șoarec, Miron: Prietenul meu Dinu Lipatti (»Mein Freund Dinu Lipatti«), Bukarest 1981, S. 88; »piesele cu o atmosferă naţională pot fi perfect înţelese pe un plan universal. Să ne gîndim la cîţiva mari compozitori care au scris lucrări în caracterul naţional al ţării lor. […] Mazurcile de Chopin sau Petruşka lui Stravinski sînt apreciate nu-mai de polonezi sau respectiv de ruşi?« 13Danuser, Hermann: Die Musik des 20. Jahrhunderts. Neues Handbuch der Musikwissenschaft, hrsg. von Carl Dahlhaus, Bd. 7, Laaber 1984, S. 48.14Melkis-Bihler, 1995, S. 250ff.