6Einleitung»Si ce tyran qu’est mon métier ne me tenait étroitement, je crois que je passerai mon temps à gribouiller trois quart de ma vie.«16 Aussagen wie diese offenbaren eine weitere Form innerer Zerrissenheit und damit eine weitere Verzahnung zwischen Biografie und Werk, in diesem Falle die Verein-barkeit von pianistischer und kompositorischer Vervollkommnung, die Lipatti nicht zuletzt mit zahlreichen Hauptwerken für sein Instrument und auch Aufführung sei-ner Kompositionen zu erreichen versucht. So überschattet die lebensbedrohliche Er-krankung auch seinen kompositorischen Antrieb: »Je n’ai plus le courage d’écrire pour mon instrument avant de me savoir en état de le jouer.«17 Andererseits betont Lipattis Lehrerin Nadia Boulanger die Bedeutung der engen Verbundenheit von Pianist und Komponist in der Person Lipatti: »Dans ses compositions, dont l’importance n’est pas encore exactement éva-luée, on trouve les mêmes signes profonds de la personnalité et la même per-fection de mise en oeuvre. Elles témoignent d’un véritable don créateur et mé-ritent d’être placées à côté des disques qui prolongent le rayonnement de l’in-terprète.«18 Volker Scherliess weist in Bezug auf den mit Lipatti eng befreundeten Igor Marke-vitch darauf hin, dass die »Personalunion von schöpferischem und interpretieren-dem Musiker, die jahrhundertelang selbstverständlich war, […] heute bei vielen in Verruf geraten«19 sei. So schwinge oft ein »abschätziger oder apologetischer Ton mit, so als könne, müsse man in jedem Falle […] professionelle und dilettierende Tätigkeit klar scheiden.«20 Die Rezeption des kompositorischen Werkes von Lipatti im deutschsprachigen Raum ist bislang ausgesprochen gering, nimmt jedoch seit der Zeit des politischen Umbruchs in den 1990er Jahren zu.21 Das wachsende Interesse ist sicherlich auch im 16Brief an Nadia Boulanger vom 31.01.1950, in: Bărgăuanu, Grigore : Corespondența dintre Dinu Lipat-ti și Nadia Boulanger, in: Muzica. Revistă editată de Uniunea Compozitorilor și Muzicologilor din România, Serie nouă, Bukarest, Nr. 4/2000, S. 82; »Wenn dieser Tyrann, der mein Beruf ist, mich nicht so eng halten würde, würde ich, so glaube ich, drei Viertel meines Lebens mit Kritzeln verbringen.« 17Brief an Paul Sacher, in: Sacher, Paul: Hommage, in: Lipatti, Madeleine (Hrsg.): Hommage à Dinu Li-patti, Genf 1951, S. 80; »Ich habe nicht mehr den Mut für mein Instrument zu komponieren, bevor ich nicht im Stande bin, es zu spielen.«18Boulanger, Nadia: Hommage, in: M. Lipatti, 1951, S. 33; »In seinen Kompositionen, deren Bedeutung noch nicht genau ermessen wurde, findet man dieselben tiefen Anzeichen seiner Persönlichkeit und dieselbe Perfektion der Bewerkstelligung. Sie bezeugen eine wahrhafte schöpferische Begabung und verdienen es, an die Seite der Einspielungen gestellt zu werden, die die Ausstrahlung des Interpreten vergrößern.«19Scherliess, Volker: Igor Markevitch: Icare, in: Melos. Vierteljahresschrift für zeitgenössische Musik, hrsg. von Wilhelm Killmayer, Wolfgang Rihm u. a., Mainz, 1/1986, S. 64.20Ebd.21Auch in Rumänien intensiviert sich die Lipatti-Forschung vor allem nach der Zeit des politischen Umbruchs in den 1990er Jahren, vgl. auch Comorovski, Constantin: În amintirea lui Dinu Lipatti [»In Erinnerung an Dinu Lipatti«], in: Lupta [»Der Kampf«], Nr. 180, Paris 07.04.1992, S. 7.