8EinleitungWest- und Osteuropas kommt mit Blick auf eine gemeinsame europäische Musikge-schichtsschreibung im europäischen Annäherungsprozess eine neue Bedeutung zu.Die historisch-ästhetische Einordnung des kompositorischen OEuvres von Lipatti zielt folglich auch auf eine Horizonterweiterung der mitteleuropäischen Musikwis-senschaften in Richtung auf Einbeziehung der Kulturen Südosteuropas und berührt damit auch Grundfragen der deutschen Musikrezeption, etwa in Bezug auf ästheti-sche Werturteile in Hinblick auf Tradition und Fortschritt, Paradigmen westeuro-päischer Harmoniesysteme oder die Beurteilung des »nationalen« Aspekts. Inten-diert ist ein Blick auf die europäische Musikgeschichte, die die Spezifik der rumäni-schen Musikkultur als eine Komponente der gesamteuropäischen Musikentwick-lung begreift und darstellt, konkret etwa durch die Fokussierung der Strömungen der Moderne auf ihre jeweils rumänische Ausrichtung. Ziel der vorliegenden Arbeit ist eine aspektbezogene Gesamtbetrachtung von Lipat-tis kompositorischem OEuvre anhand repräsentativer Beispiele unter der Fragestel-lung der Verarbeitung des Materials der rumänischen Volksmusik sowie der Strö-mungen rumänischer und französischer Moderne, vor allem des für Lipatti maß-geblichen Neoklassizismus, impressionistischer Tendenzen wie deren historischer und ästhetischer Hintergründe. Die Betrachtung der Werkgenese aus den biografi-schen und musikhistorischen Konstellationen heraus schließt notwendigerweise eine überblicksartige Darstellung der rumänischen Musikgeschichte der betreffen-den Zeit und ihrer Verbindungen zu Westeuropa mit ein, die die Verzahnung be-stimmter Musikkulturbereiche in der rumänischen und französischen bzw. zentral-europäischen Musikentwicklung deutlich werden lässt.Die Werkanalyse orientiert sich maßgeblich an den Zuordnungen »style rou-main« und »style français«. Lipatti selbst gibt den Anstoß zu einer solchen Katego-risierung, indem er verschiedene Werktitel entsprechend prononciert, so z. B. Dan-ses roumaines, Suite »Șătrarii«, Trois Nocturnes français, Concertino en style français, Concertino en style classique – spezifische Intentionen, die sich unausgesprochen auch in anderen Kompositionen zeigen. Sie verweisen ebenso auf die musikhistorische zeitgenössische Eingebundenheit wie auf die individuelle Zugriffsweise, die es gilt, personalstilistisch von denen anderer Komponisten mit ähnlich kulturübergreifen-den Ansätzen zu differenzieren. Legitim erscheint die Kategorisierung nach natio-nalstilistischen Zuordnungen zudem durch andere Äußerungen Lipattis – so finden sich etwa in seiner Erläuterung einer Komposition von Roussel die Ausdrücke »écri-ture specifiquement française«26 und »écriture polyphonique germanique«27 und in Bezug auf Mozart die Kategorien »côté italien«28 und »côté germanique«.2926Interview mit Henri Jaton während des Festival Luzern, August 1950, veröffentlicht auf der bei TAHRA erschienenen Doppel-CD »Clara Haskil und Dinu Lipatti. Hommage«, TAH 2.366–2.367. 27Ebd.28Ebd.29Ebd.