9Untersucht werden soll zum einen, inwieweit sich die für Lipattis Kompositio-nen typischen Ausdrucksmerkmale auf diese Stilrichtungen zurückführen lassen und zum anderen, inwieweit der Personalstil Lipattis, der sich von Beginn an auch jenseits nationaler Konnotation zeigt, aus der Synthese dieser Einflüsse heraus neue stilistische Unabhängigkeit erreicht und eine zunehmend über die nationale Idio-matik hinausweisende Musiksprache entwickelt. Dabei ist bei der Zuordnung solcher starrer Stilkategorisierungen durchaus Vor-sicht geboten, da es kaum Ziel sein kann, Kompositionen zu etikettieren. Auch han-delt es sich bei diesen Kategorien insofern um Konstrukte, als sie letztendlich auch dazu dienen, die Überlagerung dieser Stilebenen und ihre Integration in einen per-sönlichen Kompositionsstil zu verdeutlichen und sich dadurch gleichzeitig selbst zu relativieren. Zudem stellen die Begriffe weniger ein Gegensatzpaar dar als vielmehr ein Spannungsfeld des Austauschs, in dem sich Kompositionen der rumänischen Nationalschule gleichzeitig als ein Teil der europäischen Moderne erweisen, die mit ihren spezifisch rumänischen Ausprägungen eine Lesart dieser europäischen Mo-derne darstellen. Auch soll die Fokussierung auf beide Ebenen nicht den Blick auf die Bedeutung weiterer Einflussgrößen, etwa der Musik Bartóks, Strawinskys oder Bachs verstellen, die innerhalb der rumänischen und französischen Kontexte für Li-patti relevant werden. Die Ebenen des »style roumain« und »style français« verwei-sen auf die Verzahnung musikalischer Einflüsse mit den biografischen, historischen und ästhetischen Hintergründen wie auch Rezeptionsintentionen. Innerhalb dieser Stilperspektive dienen folglich biografische und historische, aber auch chronologi-sche, gattungs- und besetzungsspezifische Aspekte als zusätzliche Anhaltspunkte für die kompositorische Einordnung.Einige Autoren haben sich bereits einzelnen Aspekten dieser Fragestellung ge-widmet, an deren Forschungsstand ich daher kritisch anschließen möchte. Miron Șoarec, der sich vor allem biografisch mit Lipatti befasst, betont 1981, die meisten Werke Lipattis seien im rumänischen Stil geschrieben: »Aber ohne Zweifel lag ihm der rumänische Charakter näher am Herzen. Auch nachdem er das Land verlassen und sich in der Schweiz niedergelassen hatte, hat er weiterhin im Natio-nalstil komponiert.«30 Hingegen legt der italienische Musikwissenschaftler und Pia-nist Marco Vincenzi31 2001 sein Hauptaugenmerk dezidiert auf französische Stilele-mente bei Lipatti, die er auch in der rumänischen Stilistik nachweist, und sieht da-mit die französische Komponente als Schwerpunkt des gesamten OEuvres.32 Beide Autoren konzentrieren sich auf einzelne, ihre Argumentation belegende Detailun-tersuchungen. Zeno Vancea löst sich 1978 ausdrücklich von dieser nationalstilistischen Ausrich-tung und fragt ausschließlich nach dem ästhetischen Wert der Werke, seien30Șoarec 1981, S. 90; »Dar fără îndoială că muzica cu caracter românesc i-a fost mai aproape de inimă. Chiar după ce a părăsit țara și s-a stabilit în Elveția a continuat să compună în stil național«.31Vincenzi hat mehrere Werke Lipattis einspielt, vgl. Diskografie.32Vgl. Vincenzi, Marco: Influences françaises dans l’oeuvre de Dinu Lipatti, compositeur / Influenze francesi nelle composizioni di Dinu Lipatti, Vortragsmanuskript zum Colloque franco-roumain der Académie Musicale de Villecroze, 04.–06.10.2001, S. 1–9.