10Einleitungsie»rumänisch oder nicht«,33 den er, gerade in Bezug auf das kurze Leben und Wir-ken als Konzertpianist, kritisch einschätzt, jedoch als bis zu dem Zeitpunkt zu we-nig erforscht betrachtet. Bărgăuanu und Tănăsescu34 entscheiden sich hingegen für eine überblicksartige Darstellung der komponierten Gattungen mit Schwerpunkt auf dem Klavierwerk, ohne Aspekte der rumänischen Schule völlig auszublenden. Ähnlich verfährt Moro-ianu, der Lipattis Fantaisie pour piano solo op. 8 als Bezugsrahmen ins Zentrum stellt, um die anderen Klavierwerke analytisch jeweils darauf zu beziehen.In keiner dieser Veröffentlichungen wird jedoch die sukzessive Entwicklung bei-der Stilebenen mit ihren Wechselbeziehungen und Überlagerungen systematisch verfolgt. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es nun, durch eine breitere analytische Basis und einen weiten Werkkontext gültige Schlüsse in Bezug auf Lipattis Gesamtwerk zu ziehen. Dazu soll sein Werk über ein chronologisch und thematisch begründetes Schema dreier erstaunlicherweise nahezu parallel verlaufender Entwicklungssträn-ge systematisch untersucht werden: Die über jeweils mehrere Werke prozesshafte Entwicklung eines »style roumain«, eines »style français« und einer Stilsynthese, die rumänische und französische Stilebenen konsequent zu einer neuen Ausdrucksebe-ne verschmelzen lässt. Ziel der Werkanalysen ist die Erkenntnis, inwieweit Lipatti nationale Stilistika für seinen Personalstil einerseits nutzt und andererseits überwindet, um die für sein Werk charakteristischen Ausdrucksmittel zu erreichen und damit auch innerhalb der zunächst im westlichen Europa herausgebildeten neoklassizistischen und im-pressionistischen Strömungen Gültigkeit zu beanspruchen. Insofern intendiert die Arbeit auch eine direkte Verschränkung von ost- und westeuropäischer Musikge-schichte. Da der Begriff »Nationalstil« voraussetzt, dass bestimmte musikalische Kennzeichen als spezifisch begriffen und rezipiert werden, muss die Arbeit die Fra-ge klären, auf welche konkreten musikalischen Merkmale eine solche Zuordnung zurückführbar ist und welche kompositorische Bedeutung diesen für Lipattis Werk beigemessen werden kann. Unabdingbare Voraussetzung für eine solche Annähe-rung ist die zuvor erfolgende biografische Auseinandersetzung mit Lipatti, um sich den verschiedenen Einflussgrößen möglichst realistisch zu nähern. Die ausgewerteten, zumeist rumänisch- oder französischsprachigen Materialien gliedern sich in folgende Gruppen:– Primärquellen der Partituren und Tonaufnahmen, Briefe und Tonbandinter-views Lipattis, sofern nicht veröffentlicht, als Manuskript, Autograf oder Ko-pistenversion bereitgestellt von den Archiven des rumänischen Komponis-tenverbands, der rumänischen Akademie Bukarest und des Conservatoire de Musique in Genf,33Vancea, Zeno: Creația muzicală românească sec. XIX-XX, vol. 2, Bukarest 1978, S. 274; »românesc sau nu«.34Bărgăuanu / Tănăsescu, 1991 / 2000.