26Paris 1934–1939Als zeitweiliger Rezensent der rumänischen Zeitung »Libertatea« und Mitglied der »Association internationale des Critiques« dokumentiert Lipatti Ausschnitte des Pariser Konzertlebens und lässt darin seine persönlichen Präferenzen erkennen: Er berichtet fasziniert und voller Verehrung, wenn auch stets mit vorsichtiger Kritik, über Recitals von Alfred Cortot, Walter Gieseking, Edwin Fischer, Arthur Rubin-stein, Vladimir Horowitz und Emil von Sauer.21 Denkwürdig ist für ihn ein Kon-zert, in dem Enescu zusammen mit seinem Schüler Yehudi Menuhin und dessen Schwester Hephzibah auftritt: »De très beaux moments, et nous qui gardons le souvenir des inoubliables concerts du maître Enesco, nous avons eu l’illusion de l’entendre par endroits à travers l’archet de Menuhin. […] Je ne m’attendais pas que Hephzibah Me-nuhin, sa soeur, fût une si parfaite pianiste. Dans le concert qu’ils ont donné ensemble, je ne savais pas auquel des deux il fallait vouer plus d’admira-tion.«22 In vielen Konzerten moniert Lipatti jedoch die Einseitigkeit des üblichen Reper-toires »de Bach jusqu’à Debussy. Rien avant Bach et rien de notre époque. Toscani-ni, Furtwängler, Mengelberg, etc., ils sont tous pareils.«23 In diesem Urteil spiegelt sich eine Maxime Boulangers wider, die in ihrer Lehr- und Konzerttätigkeit aktiv um die Erweiterung der gängigen Konzertprogramme bemüht ist.24 In diesem Sin-ne zeigt auch Lipatti größtes Interesse für die Werke zeitgenössischer Komponisten, z. B. Strawinsky, Ravel, Ibert, Poulenc, Bartók, Martinů, Mihalovici, Schmitt, Prokof-jew. Wichtiger Veranstalter und Initiator von Uraufführungen ist die Gesellschaft für zeitgenössische Kammermusik »Triton«. Gegründet im Dezember 1932 von dem französischen Publizisten und Komponisten Pierre-Oktave Ferroud,25 strebt sie eine größere Öffentlichkeit für neue Musik und die Präsenz nicht-französischer Musik im Pariser Konzertleben an.26 Mit Marcel Mihalovici und Filip Lazăr sind in dem Zusammenschluss zwei rumänische Komponisten aktiv, und Lipatti macht über 21Vgl. auch Lipattis Briefe an Șoarec, in: Șoarec, 1981, S. 36–47. 22Konzertrezension für die »Libertatea« am 20.05.1938, abgedruckt in: Bărgăuanu / Tănăsescu, 1991, S. 232; »Sehr schöne Momente, und wir, die wir die Erinnerung an unvergessliche Konzerte des Meisters Enescu bewahren, wir hatten stellenweise die Illusion, ihn durch den Bogen Menuhins hin-durch zu hören. […] Ich hätte nicht erwartet, dass Hephzibah Menuhin, seine Schwester, so eine per-fekte Pianistin ist. In dem Konzert, das sie gemeinsam gegeben haben, wusste ich nicht, wem von beiden man mehr Bewunderung zollen sollte.« In diesem Zusammenhang sei auf die Interpretation der dritten Violinsonate von Enescu durch Y. und H. Menuhin (1936) verwiesen: EMI Classics 5 65962 2.23Brief vom 24.03.1936 an Florica Musicescu, zit. nach Bărgăuanu / Tănăsescu, 1991, S. 42; »von Bachbis Debussy. Nichts vor Bach und nichts Zeitgenössisches. Toscanini, Furtwängler, Mengelberg, sie sind da alle gleich.« 24Vgl. Spycket, Jérôme: Nadia Boulanger, New York, 1992 (Übersetzung der frz. Fassung, Lausanne 1987), S. 84ff.25Vgl. Melkis-Bihler, 1995, S. 433ff.26Vgl. die ausführliche Darstellung von »Triton« in III.2.6.2.