2.3 Pianistische und kompositorische Weiterentwicklung29tion geleitet.38 Ihr jeweiliger Anspruch liegt jedoch in einer authentischen Wieder-gabe der Komposition, wobei sie in ihrem Bemühen um objektive Klarheit u. a. Wil-helm Backhaus als Vorbild sehen.39 Daher urteilt Spycket: »Ihre musikalischen Auf-fassungen waren zweifellos verschieden: Bei Lipatti verband sich ein scharfer Ver-stand mit einer tiefen Sensibilität. Clara dagegen empfand und spielte rein instink-tiv. Aber sie verfolgten dieselben Ziele, hatten dieselben Ideale.«40Lipatti und Haskil treten 1939 häufig gemeinsam auf; von ihnen eingespielte Testaufnahmen wurden jedoch nicht veröffentlicht.41Haskils Repertoire weist mit dem Concertino en style classique (1936), der Sympho-nie Concertante (1938), dem Nocturne (en fa# mineur) (1939) und der Transkription der Pastorale in F-Dur von J. S. Bach (1950) einige von Lipattis Kompositionen auf, von denen die beiden zuletzt genannten ihr gewidmet sind.In Paris wird Lipatti auch mit der Frage nach einer historischen bzw. zeitgemä-ßen Aufführungspraxis konfrontiert. Es bilden sich zwei ästhetische Lager mit un-terschiedlichen Authentizitätsverständnissen heraus, die bis heute nachwirken. Die Cembalistin Wanda Landowska (1879–1959) verkörpert die Orientierung an histo-risch originalgetreuen Aufführungsmaßstäben, wohingegen Boulanger sich gegen die Restauration der vergangenen Musik wendet.42 Auch Lipatti vertritt offensiv die Haltung, dass man gerade die Musik der alten Meister nicht durch die Rückkehr zu den notwendigerweise beschränkten historischen Möglichkeiten beschneiden dürfe. Diese seien vielmehr ihrer Zeit voraus gewesen, weshalb man die Wiederga-be ihrer Werke nicht auf das Instrumentarium ihrer Epoche begrenzen dürfe.43 Im Gegensatz zu frühen Testaufnahmen von Werken Bachs am Cembalo44 interpretiert Lipatti danach barocke Kompositionen ausschließlich am Klavier, eine Position, die er später als Lehrer entschieden vertreten wird. 2.3 Pianistische und kompositorische Weiterentwicklung Sein erstes Recital gibt Lipatti an der École Normale im Mai 1935, am Tag der Be-erdigung von Paul Dukas. Zu dessen Gedenken beginnt er den Abend mit dem Choral Jesus bleibet meine Freude aus der Bach-Kantate Nr. 147. Dieses Stück kann als 38Vgl. Bărgăuanu / Tănăsescu, 1991, S. 141 ff. und Spycket, Jérôme: Clara Haskil. Eine Biographie, Bern / Stuttgart 1977, S. 165.39Vgl. Worbs, Hans: Große Pianisten einst und jetzt, Berlin 1964, S. 16ff. und Spycket, 1977, S. 288.40Spycket, 1977, S. 116. 41Vgl. a.a.O., S. 122: Er spricht von einer Aufnahme des Allegro a-Moll für zwei Klaviere von Schubert und einer Version für zwei Klaviere der Variationen B-Dur über ein Thema von Haydn von Brahms.42In ihren wegweisenden Einspielungen von Madrigalen und Arie profane von Monteverdi vom Febru-ar 1937 spielt sie selbst den Basso Continuo mit Klavier anstatt mit Cembalo, was Spycket als »le plus gros handicap de ces enregistrements« bezeichnet, in: Spycket, Jérôme: Un diable de musicien: Hu-gues Cuenod, Lausanne, 1979, S. 81. 43Vgl. auch III.3.2.4 »Verzahnung von interpretatorischer und kompositorischer Arbeit bei Lipatti«.44Es handelt sich um die Allemande aus der Partita Nr. 1 B-Dur und einen improvisierenden Aus-schnitt über die Toccata C-Dur, aufgezeichnet am 25.06.1936 an der École Normale de Musique, ver-öffentlicht auf der CD »Cornerstones«, ARC 127.