30Paris 1934–1939ein persönliches Leitmotiv Lipattis bezeichnet werden, da Lipatti diesen Satz oft-mals in für ihn persönlich bedeutsamen Lebenssituationen spielt, z. B. am Ende sei-nes letzten Konzertes am 16.09.1950, nachdem ein Schwächeanfall sein reguläres Programm beendet hatte. Walter Legge, Freund und Aufnahmeleiter der meisten Einspielungen Lipattis, beschreibt die tiefe Bedeutung des Chorals für Lipatti: »It is impossible to explain to those who have not experienced the wonder of his playing of this piece, its rapt beauty and fascination. It was always the first encore he played, and for him it was a prayer and utterance of thanksgiving to god.«45 Auch Nikita Magaloff sieht diesen Choral derart tief mit der Interpretation durch Lipatti verbunden, dass er für viele Zuhörer der »choral de Lipatti«46 geworden sei. Lipatti selbst äußert sich kurz vor seinem Tod in einem Radio-Interview zu diesem Choral:»C’est l’oeuvre qui me tient le plus à coeur. Je crois que c’est celle dans laquelle je me sens le moins impur et dans laquelle peut-être je pourrais donner le meilleur de moi-même en tant qu’artiste plus tard.«47Kurz vor seinem Recital-Debüt hatte Lipatti in einem Konzert der École Normale vom 25.02.1935 Enescus Sonate fis-Moll interpretiert und damit begeisterte Auf-merksamkeit auf sich gezogen.48 Bereits im ersten Pariser Jahr gilt er in wichtigen musikalischen Kreisen als arriviert, und sein Ruf beginnt sich über die Grenzen Frankreichs hinaus zu etablieren. In Genf, seiner späteren Heimat, gibt er am 27.10.1935 ein Radiokonzert und tritt ebenfalls im Conservatoire auf. Am 04.03.1936 findet, organisiert von der »Association Amicale de l’École Nor-male«, ein »Festival de Musique roumaine« statt, auf dem neben Werken von Geor-ge Enescu und Ionel Perlea auch Lipattis Sonatine pour violon, interpretiert durch ihn und Lola Bobesco, zu hören ist. Im Juni 1936 übernimmt Lipatti mit Boulanger den Klavierpart in Markevitchs Paradis Perdu und spielt in einem Konzert der Groupe Triton eine Sonate von Enes-cu. Ebenfalls im Juni führt er erste Testaufnahmen an der École Normale durch,49 die den Auftakt zu weiteren Einspielungen bilden, darunter 1938 zusammen mit Boulanger die Walzer op. 39 und Liebesliederwalzer von Brahms.50Neben der Integration im Pariser Musikleben konzertiert Lipatti auch weiterhin in Rumänien. In Bukarest findet am 07.11.1936 sein erster gemeinsamer Sonaten-45Legge, Walter: Dinu Lipatti, in: The Gramophone, Stanmore, Februar 1951, S. 193; Legge verweist auf die endgültige Aufnahmeversion des Chorals vom Juli 1950, vgl. CD EMI 5 66988 2.46Magaloff, Nikita: Hommage, in: M. Lipatti, 1970, S. 87. 47Interview mit François Magnenat für Radio Suisse Romande vom 27.09.1950, veröffentlicht auf der CD »Hommage à Haskil et Lipatti«, TAH 2.366–2.367; »Es ist das Werk, an dem ich am meisten hän-ge. Ich glaube, es ist dasjenige, in dem ich mich am wenigsten unrein fühle und in dem ich vielleicht als Künstler einmal das Beste von mir selbst geben könnte.«48Vgl. Bărgăuanu / Tănăsescu, 1991, S. 37.49Die Aufnahmen an der École Normale vom 25.06.1936 umfassen das Intermezzo b-Moll op. 117 Nr. 2 von Brahms, den 2. Satz der Klaviersonate fis-Moll von Enescu, die Allemande der Partita Nr. 1 B-Dur von Bach (Cembalo) und eine kurze Improvisation über die Toccata C-Dur von Bach / Busoni (Cemba-lo), und sind publiziert auf den CDs ARC 112/113 und ARC 127.50Publiziert auf der CD EMI 5 66425 2.