34Paris 1934–1939»Ich freue mich sehr darauf, euch zu sehen, die Heimat wiederzusehen und darauf, diese extrem interessante doch peinvoll bedrückende Atmosphäre los zu werden, besonders in letzter Zeit seit den Schrecknissen, die wir mit der in-ternationalen Politik erlebt haben. Jedenfalls warten wir resigniert auf die Er-eignisse. […] Jetzt warte ich darauf, mich in meinen Schlupfwinkel in der Hei-mat zurückzuziehen, nachzudenken, zu spielen und zu komponieren.«64Einen Monat früher hatte er an Boulanger geschrieben, die sich zu einem mehrmo-natigen Aufenthalt in den USA befindet: »Vous me manquez énormement; j’ai l’impression […] de vivre musicalement ›au ralenti‹. Actuellement nous vivons de nouveau sous l’angoisse et si la dé-tente se manifeste pour quelques jours, ce n’est que le prélude d’une nouvelle période d’inquiétudes. […] En ce moment je suis plein de remords vis-à-vis d’un autre devoir, mille fois plus attrayant et que j’ai négligé tellement ces der-niers temps: la composition. Je tâcherai à votre retour […] de vous présenter un nouveau travail dans ce domaine«.65Zu dem neuen Werk wird er in Paris nicht mehr kommen, allerdings wird er Bou-langer noch 1939 von Rumänien aus eine neue Komposition, Concerto pour orgue et piano, wid-men. Diese Briefpassage kann stellvertretend für zahllose andere stehen, in denen er seinen Zeitmangel für die Komposition bedauert. Dennoch zeigt sich Lipattis Bilanz der Pariser Studienzeit neben der Ausweitung seiner Konzerttätigkeit in einem viel-fältigeren und eigenständigeren Kompositionsstil, in dem vermehrt westeuropäi-sche Einflüsse erkennbar sind. Diese Jahre bilden den Durchbruch für Lipatti als Komponisten sowohl hinsichtlich der Anzahl seiner hier entstandenen Werke als auch ihrer Bedeutung für die Entwicklung eines eigenen Personalstils. Auch eine adäquate Rezeption seiner Werke lässt sich vor allem in den späten dreißiger Jahren verfolgen. Es lässt sich daher vermuten, dass sich Lipattis Anerkennung als Kompo-nist ohne den durch den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges erzwungenen Weg-gang aus Paris konstanter hätte etablieren können als es tatsächlich der Fall war.64Brief vom 23.05.1939 an Miron Șoarec, Șoarec, 1981, S. 51/52; »Mă bucur mult să vă văd, să revăd țara și să schimb atmosfera aceasta extrem de interesantă dar penibil de apăsătoare, mai cu seamă în ul-timul timp de cînd cu spaimele prin care am trecut cu politica internațională. Cel puțin noi așteptăm resemnați evenimentele. […] Acum aștept să mă retrag în bîrlogul meu de la țară, și să meditez, să cînt, și să compun.«65Brief vom 21.04.1939 an Nadia Boulanger, Muzica 4/2000, S. 61; »Sie fehlen mir enorm; ich habe, vor allem seit ich meine Konzerte beendet habe, das Gefühl, musikalisch ›in Zeitlupe‹ zu leben. Aktuell leben wir von neuem in der Angst, und wenn die Entspannung sich für einige Tage einstellt, ist das nur das Vorspiel zu einer neuen Periode von Beunruhigungen. […] Im Moment bin ich voller Gewis-sensbisse gegenüber einer anderen, tausend Mal reizvolleren Aufgabe, die ich in letzter Zeit so ver-nachlässigt habe: der Komposition. Ich versuche, Ihnen bei Ihrer Rückkehr […] eine neue Arbeit auf diesem Gebiet zu präsentieren.«