3.3 Künstlerische Kontinuitäten 41in einem Brief hinter der Ortsangabe Berlin ein »(Brrr!)«33 ein und gibt dadurch sei-nem Unbehagen Ausdruck.34In die Zeit des Krieges fällt auch ein Gastdirigat des holländischen Dirigenten Willem Mengelberg in Bukarest, unter dem Lipatti mit dem Radiosinfonieorchester das Klavierkonzert Es-Dur von Liszt spielt. Mengelberg wird das legendäre Zitat in den Mund gelegt »Er ist kein Lisztspieler!«35 als Ausdruck seiner Überraschung und Skepsis angesichts der wenig massiven körperlichen Statur Lipattis, das er je-doch nach dem Spiel begeistert revidiert habe.Weitere Konzertreisen führen Lipatti nach Sofia und in die Tschechoslowakei. Über das Konzert in Sofia gibt es einen enthusiastischen Bericht über Lipattis Fähig-keit der Improvisation. Er habe dort auf Aufforderung ein vorgegebenes bulgari-sches Thema nacheinander als Präludium und Fuge im Stil Bachs, als Allegro im Sinne Haydns, als Menuett à la Mozart, als eine Art Brahms-Intermezzo, als Noctur-ne wie von Chopin und als Prélude wie von Debussy verarbeitet und damit große Verblüffung hervorgerufen.36 Grundsätzlich vermeidet Lipatti jedoch improvisierende Auftritte, da er das Mit-tel der Improvisation in erster Linie als ein Arbeitsmittel für sich selbst betrachtet, um sich in die Klanglichkeiten der verschiedenen Stile hineinzuversetzen. Lipattis Schüler Alain Naudé äußert sich über den Stellenwert der Improvisation bei Lipatti: »On pense généralement que la sonorité se cultive par le travail technique. Pour lui elle se cultivait par la musicalité. Pour me montrer il se mettait au piano et improvisait des pages ravissantes du plus sur Bach, Chopin, Schubert, Schumann, Debussy. C’était pour lui la chose la plus naturelle au monde.«37Auch in seinem kompositorischen Schaffen arbeitet Lipatti an der kontinuierlichen Weiterentwicklung und Ausformung seines eigenen Stils. In diesen Jahren entste-hen personalstilistisch bedeutsame Werke, in denen sich aus der Distanz zu den französischen Einflüssen eine erneute Synthese vollzieht. Diesen Reflexionsprozess beschreibt Jora anlässlich eines Jubiläumskonzertes der »Societatea Compozitorilor 33Brief an Familie Lipatti, ohne Datum zit. nach a.a.O., S. 78. 34In einem anderen Brief verleiht er seinem Erstaunen Ausdruck über den Anfang 1943 noch in Berlin angetroffenen Lebensstandard: »Hier isst man ziemlich gut und heizt die Räume auf 19–20°. Warmes Wasser ganztätgig und ein ziemlich entspanntes Leben.« »Aici se mănâncă destul de bine și se încăl-zește permanent la +19°-+20°. Apă caldă în permanență și viața destul de bine echilibrată.« (Brief vom 17.01.1943 an Corneliu Bedițeanu, in: Breazul, George (Hrsg.): Scrisori și Documente III. Alte scrisori și documente din biblioteca ›George Breazul‹, ediție îngrijită și adnotată de Titus Moisescu, Bukarest 1997, S. 62.)35Șoarec, 1981, S. 62.36Vgl. Alexandrescu, Romeo: Dinu Lipatti. Impressions et Souvenirs, in: Muzica 6 / 1972, Bukarest, S. 44.37Naudé, Alain: Souvenirs de Dinu Lipatti, in: Muzica. Revistă editată de Uniunea Compozitorilor și Muzicologilor din România, Serie nouă, Bukarest, Nr. 3 / 2000, S. 55; »Normalerweise denkt man, dass die Klangvielfalt über die technische Arbeit erreicht wird. Für ihn entstand sie aus der Musikali-tät heraus. Um es mir zu zeigen, setzte er sich ans Klavier und improvisierte reizende Stücke über Bach, Chopin, Schubert, Schumann, Debussy. Das war für ihn die natürlichste Sache der Welt.«