4.3 Lipatti als Lehrer53In den folgenden Jahren entwickelt sich das Unterrichten jedoch zu einem Funda-ment seines künstlerischen Selbstverständnisses, so dass er konstatiert »donner des leçons est souvent en recevoir et des plus profitables.«42 Nachdem Lipatti im Febru-ar 1949 seine Professur aus Krankheitsgründen niederlegt,43 plant er weiterhin ein-zelne Interpretationskurse, deren erster im April 1951 zusammen mit Boulanger realisiert werden soll.44 Nikita Magaloff wird sein Nachfolger, zeitweise vertreten durch Madeleine Lipatti und Béla Siki.Zu Lipattis Schülern zählen u. a. Hedy Salquin, Béla Siki, Jacques Chapuis, Ro-bert Weisz, Alain Naudé, Harry Hubert, Fernande Kaeser, Louise Antoinette Lom-bard, Gilbert Favre-Bulle, Paulette Peretti und Jelena Hodzova. In zahlreichen Ver-öffentlichungen dieser Pianisten finden sich Erinnerungen an ihren Lehrer Lipatti. Da seine Unterrichtsprinzipien ein Spiegel seiner eigenen Arbeitsweise sind, soll im Folgenden auch auf Lipattis persönliche interpretatorische Maßstäbe eingegangen werden. Der ungarische Pianist Robert Weisz, erster Preisträger beim Genfer Internatio-nalen Klavierwettbewerb 1949, schildert musikalische und persönliche Grundzüge des Unterrichts: »Il nous enseigna avant tous l’humilité et le respect du texte musical, sa pro-fonde signification que seule une recherche continuelle et scrupuleuse permet d’atteindre. Mais ce serait faire injustice à sa mémoire que de me souvenir seulement de l’influence musicale que Lipatti exerça sur nous. Son rayonne-ment dépassa de beaucoup ce domaine car il marqua toute notre évolution hu-maine. Il nous conseilla dans nos lectures, prêta une oreille attentive et bien-veillante à nos problèmes et nous secourut avec une compréhension paternelle dans les difficultés que nos carrières nous imposaient.«45 Harry Hubert äußert sich fasziniert über den erstaunlich nachhaltigen Einfluss Li-pattis auf ihn, obwohl er nur ca. vier Stunden bei ihm und ebenso viele bei Madelei-ne Lipatti genommen habe. Hedy Salquin vergleicht den Unterricht bei Lipatti mit einem Noviziat, da die innere Verpflichtung gegenüber Werk und musikalischer Vollkommenheit über allem stehe. Entgegen ihrer vorherigen Erfahrungen habe Li-patti viel spontan und mit eigenen Übungen gearbeitet. 42Interview mit Magnenat vom 27.09.1950, CD TAH 2.366–2.367; »Stunden geben ist oftmals wie emp-fangen und wertvoller.«43Zuvor war ihm bereits sein früherer Schüler Louis Hiltbrand als Assistent zur Seite gestellt worden.44Vgl. Brief vom 11.09.1950 an Henri Gagnebin, Direktor des Genfer Konservatoriums und Brief vom12.09.1950 an Nadia Boulanger, beide Muzica 4/2000, Bukarest, S. 88–96.45Weisz, Robert: Hommage; in: M. Lipatti, 1970, S. 105; »Er lehrte uns vor allem die Demut und den Respekt vor dem musikalischen Text, seine tiefe Bedeutung, die allein durch eine kontinuierliche und gewissenhafte Suche erreicht werden kann. Aber es würde der Erinnerung unrecht tun, mich nur an den musikalischen Einfluss zu erinnern, den Lipatti auf uns ausübte. Seine Ausstrahlung überschritt diesen Bereich bei weitem, weil er unsere ganze menschliche Entwicklung prägte. Er beriet uns in un-seren Stunden, hatte ein aufmerksames und wohlwollendes Ohr für unsere Probleme und half uns mit väterlichem Verständnis in den Schwierigkeiten, die unsere Karrieren uns stellten.«