54Genf 1943–1950 »Der Pädagoge Lipatti hatte eigentlich keine Methode. […] Seine eigene vollendete Technik verdankte er zum Teil seiner berühmten Lehrerin Florica Musicescu […] und seinen Studien bei Alfred Cortot an der Ecole Normale in Paris. Aus diesen Elementen hatte Lipatti eine eigene Technik entwickelt, de-ren Leitmotiv war: alles möglichst rationell! Das war etwas völlig Neues. Vor-bei mit den unnötigen, energieverschleißenden Bewegungen.«46 Er habe zentrale Elemente wie die bewusste Steuerung des Gewichts eines vollkom-men entspannten Oberarms oder die Haltung des Handgelenks mit einfachen Bil-dern vermittelt, für die damalige Zeit ungewöhnlich: »›Halten Sie Ihre Hand, wie wenn Sie einen Apfel festhalten würden.‹ Da war man weit entfernt von gewissen steifen früheren Methoden! […] Er brachte das Klavierspiel auf ein paar einfache, aber essentielle physikalische Grundre-geln zurück […] – allein durch die Kunst des Einsetzens der Schulter- und Rückenmuskulatur, nach dem Grundsatz: je leiser der Ton, desto mehr Ge-wicht braucht er. […] Lipatti dachte als Pianist durchaus auch orchestral. Bei ihm musste ich lernen und üben, beim Anschlag eines einzigen Akkordes durch eine einzelne Hand jedem Finger eine andere Klangfarbe zu geben! Und das war durchaus machbar. Niemals wurde ein Akkord nur als unpersönli-ches ›Paket‹ angeschlagen. […] Ein anderer wichtiger Schwerpunkt war für ihn stets die linke Hand […], dessen Elemente er ›personalisierte‹, sie in Teile mit verschiedenen Klangfarben und orchestralen Tupfern zerlegte.«47Alain Naudé sieht einen Schwerpunkt in der Vermittlung rhythmischer Grundla-gen: »Lipatti disait que l’élément fondamental et indispensable dans la musique est le rythme, et qu’aucun autre élément n’y peut même exister sans celui-là. Il s’ensuit que les fautes d’exécution les plus graves sont les fautes de rythme.« 48 Jacques Chapuis, der zwischen 1945 und 1949 Lipattis Schüler ist, wird auf des-sen Anregung hin zum Mitgründer der Jeunesses Musicales49 in der Schweiz. Lipat-ti hatte diese internationale Organisation in Belgien durch Marcel Cuvelier, den Di-rektor des »Théâtre Beaux-Arts« in Brüssel, kennengelernt. Béla Siki ist 1947/48 Schüler von Lipatti am Conservatoire de Genève, bevor er nach der Auszeichnung beim »Concours international« in Genf 1948 seine Solokar-riere antritt. Er bleibt mit Lipatti bis zu dessen Tod eng verbunden und begleitet ihn in den letzten Lebensjahren häufig zu den Bluttransfusionen. Bewundernd be-46Salquin, 2001, S. 22.47Salquin, 2001, S. 23.48Naudé, 2000, S. 52; »Lipatti sagte, das fundamentale und unerlässliche Element in der Musik sei der Rhythmus, und dass jedes andere Element nicht ohne diesen existieren könne. Er folgerte daraus, dass die gravierendsten Fehler der Ausführung die des Rhythmus seien.«49Zeitgleich 1939 in Belgien von Marcel Cuvelier und in Frankreich von Rene Nicoly gegründete Orga-nisation mit zunehmend internationaler Ausrichtung, die sich u. a. über die Zeitschrift ›Journal musi-cale français‹, durch Gesprächskonzerte und Wettbewerbe die musikalische Förderung der Jugend zum Ziel setzt. Lipatti unterstützt die Jeunesses Musicales mit Konzerten.