56Genf 1943–1950 später mit dem Orchestre de la Suisse Romande in Genf unter Ansermet.57 Siki be-tont jedoch, normalerweise habe »Lipatti seine Kompositionen nicht an seine Schü-ler weitergegeben. Nur wenige von uns hatten eine Ahnung davon, was vorhanden war.«58 Neben den Zeugnissen der Schüler geben Aufzeichnungen von Lipatti selbst Auf-schluss über seine musikalischen Leitgedanken. Aus Lipattis im Oktober 1950 ver-fasstem Vorwort für Douze études pour piano von Raffaele d’Alessandro lassen sich dieselben allgemein gültigen Prinzipien seines Spiels ablesen. Oberste Priorität hat die Werkidee des Komponisten, die man lediglich wie einen »lettre morte« 59 bele-ben dürfe: »Comme toute vraie musique, celle d’Alessandresco ne doit être défor-mée ni dans son tempo, sous prétexte d’un rubato personnel et arbitraire, ni dans ses fluctuations dynamiques; que l’on fasse ce qui est écrit, cela et rien d’autre.«60 Dies bezieht sich explizit auch auf die Pedal- und Metronomangaben. Auch wenn der Respekt vor dem Text niemals ohne den emotionalen persönlichen Beitrag des Interpreten auskomme, sei letzterer ohne das Erstere wertlos.61 Lipatti legt seine Arbeitsweise dezidiert dar, die »d’après moi, me semble celui qui doit mener à la vérité.«62 Diese Wahrheitssuche als Bemühen um Werktreue ist ein Schlüsselbegriff für Lipattis Schaffensprozess, den er in drei klar umrissene Ar-beitsschritte unterteilt. Am Beginn steht die Entwicklung einer inneren Klangvorstellung des Werkes, die als richtungsweisendes Ideal vor allem den Ausdrucks- und Sinngehalt der Komposition umreißt. Bezeichnend für das Bemühen um das objektive Erfassen al-ler Elemente geschieht dies nicht am Klavier, sondern ist Ergebnis einer geistigen Lektüre der Partitur. Anschließend folgt die Phase der »travail artisanal«,63 der rein technischen Bewältigung der instrumentalen Schwierigkeiten, z. B. des Finger-satzes: »Un bon doigté facilite le travail de 50 pour cent et permet pour des années de graver au point de vue mémoire l’oeuvre plus que toute mémorisation en dehors du piano.«64 Ziel ist die Erarbeitung eines nuancierten Ausdruckspotentials in 57Vgl. CD ARC-112/113. 58E-Mail an die Autorin, 15.01.2003.59Lipatti, Dinu: Préface, in : D’Alessandro, Raffaele: Douze études pour piano, Lausanne 1950 Edition Maurice et Pierre Foetisch.60Ebd.; »Wie jede wahre Musik darf jene von Alessandro nicht verändert werden, weder im Tempo, unter dem Vorwand eines persönlichen und willkürlichen Rubato, noch in seinem dynamischen Fluss; man muss machen, was da steht, das und nichts anderes.«61Vgl. dazu auch Äußerungen der Lipatti-Schülerin Louise A. Lombard in : Păsculescu-Florian, Car-men: Dinu Lipatti. Pagini din jurnalul unei regăsiri, Bukarest 1989, S. 138f.62Brief Lipattis von 1946 an die Musikerin Marie-Madeleine Tschachtli, hrsg. in: Gendre, André: Dinu Lipatti et Georges Schwob. Une amitié artistique, in: Revue musicale de la Suisse romande Nr. 5, Yverdon 1980, S. 208f; »meiner Meinung nach die zu sein scheint, die zur Wahrheit führt.«63Zit. nach M. Lipatti, 1970, S. 10; »handwerkliche Arbeit«.64Interview mit Magnenat vom 27.09.1950, CD TAH 2.366–2.367; »ein guter Fingersatz erleichtert die Arbeit um 50 Prozent und erlaubt das gedächtnismäßige Einprägen des Werkes auf Jahre mehr als jede Memorierung außerhalb des Klaviers.«