4.3 Lipatti als Lehrer57Klangfarbe, Stimmführung und Rhythmus. Akribische Herausarbeitung gerade der schwachen Taktzeiten und der komplementären Stimmbewegungen einer Hand bil-den die Stütze für das Ziel der »plasticité et la diversité d’une exécution orchestra-le.«65 Dieser Anspruch impliziert in der schöpferischen, quasi instrumentierenden Ausgestaltung auch die Ebene kompositorischen Denkens.Im dritten Arbeitsschritt geschieht die Umsetzung des musikalischen Gedankens durch Integration des technisch erarbeiteten Materials in den anfangs konzipierten Gesamtentwurf. »Une période d’à peu près un mois ou deux me suffit pour apprendre l’oeuvre suffisamment pour la connaître, mais pas suffisamment pour la jouer en pu-blic. Et j’estime seulement qu’ensuite, il faut la laisser reposer et la reprendre pour le travail définitif, le polissage, le finissage quelques mois après. Et alors, j’ai la joie quelquefois de constater que pendant ces mois de repos, l’oeuvre a mûri, a travaillé d’elle-même si j’ose dire ainsi.«66Lipatti betrachtet die distanzierende Perspektive als notwendige Voraussetzung für die Vermeidung subjektiver Verzerrungen der musikalischen Idee, die er »pensée initiale«67 nennt. Dieser letzte Schritt ist niemals abgeschlossen; vielmehr kann der Anspruch von Lipattis Interpretationen, die Burckhardt in ihrer geistigen Geschlos-senheit »Ideogramme«68 nennt, immer nur in neuen Annäherungen fokussiert wer-den. Spätestens zu diesem Zeitpunkt sind die Grenzen musiktheoretischer Erkennt-nisse erreicht: »en me fiant pour le reste à l’instinct, cette seconde mais non moins précieuse intelligence, ainsi qu’à la pénétration en profondeur de l’oeuvre qui, tôt ou tard, finit par livrer le secret de son âme.«69 Interessanterweise hebt Lipatti hier die Unterscheidung zwischen »Instinkt« und »Intellekt« auf und macht damit deren pauschalisierende Trennung, wie sie z. B. in Bezug auf Haskil und ihn oft geltend gemacht wird, letztendlich unmöglich.70 65Brief an einen südafrikanischen Studenten, ohne Namen des Adressaten publiziert in M. Lipatti, 1970, S. 108; »Plastizität und die Mannigfaltigkeit einer orchestralen Ausführung.«66Interview mit Magnenat vom 27.09.1950, CD TAH 2.366–2.367; »Ein Zeitraum von ungefähr ein oder zwei Monaten genügt mir, um das Werk ausreichend kennenzulernen, aber genügt nicht, um es öf-fentlich zu spielen. Und ich meine nur, danach muss man es liegen lassen, um es wieder für die end-gültige Arbeit aufzunehmen, für die Politur, für die Beendigung einige Monate später. Und dann habe ich manchmal die Freude zu konstatieren, dass das Werk während dieser Monate der Ruhe ge-reift ist, selbst gearbeitet hat, wenn ich es so sagen darf.«67Brief an einen südafrikanischen Studenten, 1970, S. 107; »Initialgedanke«.68Burckhardt, Carl J.: Hommage; in: M. Lipatti, 1970, S. 46 / Burckhardt, Carl-J.: Porträts und Begeg-nungen, Gesammelte Werke Bd. 4, Bern / München / Wien 1971, S. 251; er bezieht sich dabei auf die Interpretation der Walzer von Chopin.69Lipatti, Dinu: Ebauche d’un projet pour un cours d’interprétation au conservatoire de Genève, in: Al-bum consacré à la mémoire Dinu Lipatti réalisé pour Pathé-Marconi par la S.N.Mercure, éditeur à Pa-ris, le 2 décembre 1955, coffret Columbia FCX 491/5, S. 23; »indem ich mich für das übrige auf den In-stinkt verlasse, diese zweite, doch nicht weniger wertvolle Intelligenz, und ebenso auf die tiefe Durchdringung des Werkes, die früher oder später schließlich das Geheimnis seiner Seele freigibt.« 70Vgl. II.2.2 »Persönliche und musikalische Begegnungen«.