58Genf 1943–1950 Aus dieser prozesshaften Arbeitsweise resultieren die bereits angesprochenen außergewöhnlich langen Erarbeitungszeiträume der Konzertprogramme. Ein Bei-spiel für Lipattis Kompromisslosigkeit im Anspruch an die kompositorisch authen-tische Wiedergabe sind die Préludes, die Frank Martin für ihn komponiert hatte. Martin erinnert sich an ein Gespräch auf seine Nachfrage, wann Lipatti die Préludes spielen werde: »›je vous les jouerai dans deux ans.‹ Et comme il me voyait un peu … étonné, un peu déçu de ce long délai, il a repris: ›Voyez-vous, je pourrais très bien les jouer dans peu de temps, mais je ne veux pas. Si je les joue, je veux qu’ils soient devenus pour moi comme une seconde nature, qu’ils sortent de mes doigts comme si je les improvisais sur le moment.‹«71 Dieses Bemühen um die persönliche Aneignung der Komposition als »zweite Na-tur« zeigt das Verzahnen der Intention der Werktreue mit Lipattis eigener Erfah-rung als Komponist. Daher bezeichnet Chapuis ihn als »pianiste recréateur«.72 Den Blickwinkel des Komponisten einnehmend, modelliert Lipatti ein »Relief«73 aller stimmlichen Bezüge unter der Prämisse »Every note in every part must live and contribute its meaning to the whole«,74 was seinen Schwerpunkt des polyphonen Denkens auch in der Interpretation verdeutlicht. So kommen Bărgăuanu und Tănă-sescu zu dem Schluss: »On pourrait dire qu’un trait caractéristique de l’interpréta-tion de Lipatti est la ›polyphonisation‹ de la musique.«75 Sie verwenden in dieser Äußerung einen weiten Polyphoniebegriff, der auch die Plastizität der Stimmfüh-rung in homophonen Strukturen umfasst, wodurch eine Aufwertung gerade der Nebenstimmen und damit des harmonischen Gefüges geschieht.76In diesen Prinzipien der Relief-Arbeit zeigen sich Parallelen zu dem rumäni-schen Dirigenten Sergiu Celibidache, der derselben Generation wie Lipatti angehört und diesen Anspruch als das Denken in der Simultaneität umschreibt: »Der Musi-ker hat nur eine Prioritätsformel: Er muß in seiner Musikalität, in seinem Korrela-tionsgeist in der Lage sein, zu sagen, das ist wichtiger als das […]. Die Größe eines Musikers ist die Fähigkeit, alles was linear läuft, in der Simultaneität zu fassen …«7771Martin, Frank: Hommage, in: M. Lipatti, 1970, S. 92; »›ich werde sie Ihnen in zwei Jahren vorspielen.‹ Und weil er mich ein bisschen … erstaunt, ein bisschen enttäuscht über diesen langen Aufschub sah, hat er hinzugefügt: ›Sehen Sie, ich könnte sie sehr wohl in kurzer Zeit spielen, aber ich möchte nicht. Wenn ich sie spiele, will ich, dass sie für mich wie eine zweite Natur sind, dass sie aus meinen Fin-gern fließen, als ob ich sie in dem Moment improvisieren würde.‹« Zu einer Aufführung durch Lipat-ti ist es nicht mehr gekommen.72Chapuis, Jacques: Hommage, in: M. Lipatti, 1970, S. 50.73Brief an einen südafrikanischen Studenten, M. Lipatti, 1970, S. 108.74Legge, 1951, S. 195.75Bărgăuanu / Tănăsescu, 1991, S.136; »Man könnte sagen, dass ein Charakterzug von Lipattis Inter-pretationen die ›Polyphonisierung‹ der Musik ist.«76Vgl. Bărgăuanu / Tănăsescu, 1991, S. 149.77Zit. nach Weiler, Klaus: Celibidache. Musiker und Philosoph, München 1993, S. 285f.