60Genf 1943–1950 Ende März 1948 bricht Lipatti zu einer Reihe von Konzerten nach Großbritanni-en auf, wo u. a. die Einspielung des Klavierkonzerts a-Moll von Robert Schumannunter Herbert von Karajan entsteht.84 In den 40er Jahren wächst Lipattis Bewunderung für die Kompositionen Béla Bartóks. Mit Madeleine erarbeitet er die Sonate für zwei Klaviere und Schlagwerk und äußert sich begeistert über Bartóks drittes Klavierkonzert, dessen Emotionsgehalt und Klarheit ihn berühren, und das er 1947 unter Ansermet zur europäischen Erstauf-führung bringt. In diesem Werk sieht er auch Wurzeln der rumänischen Musik ver-arbeitet: »Je ne saurais vous dire combien sa sonorité s’approche de la musique rou-maine. Je l’ai déchiffré avec émotion […] Ce concerto c’est son oeuvre ultime.«85 Ne-ben dem Allegro Barbaro nimmt er die Tänze im bulgarischen Rhythmus aus dem 1940 veröffentlichten Mikrokosmos in sein Programm auf; hingegen beschreibt er Bartóks Klaviersonate von 1926, die ebenfalls zu seinem Repertoire gehört, als »très sauvage et dissonante, […] mais quand même très intéressante«.86 Bartók gehört zu den Musikern, die Lipatti als kompositorisches Vorbild be-trachtet: »La grande figure actuelle qui brille miraculeusement par ses dernières oeuvres, c’est Béla Bartók, le grand, le très grand compositeur de notre époque …«.87 Ab 1947 führt Lipattis nun diagnostizierte Hodgkinsche Krankheit zu immer häufigeren Schaffenspausen und Konzertabsagen. In zahlreichen Briefen sind die Phasen der krankheitsbedingten Stagnation dokumentiert, nicht selten begleitet von Sarkasmus und Galgenhumor. So schreibt Lipatti im Mai 1948 an Georges Schwob: »Je suis d’une humeur de chien et je félicite mes collègues de ma génération, car si j’avais la santé équivalente à ma vitalité, ils n’arriveraient plus à jouer une seule note en Europe, tellement je serais partout à la fois à donner 3 récitals par jour!«88 Nach zwei Konzerten, die Anfang Januar 1948 hatten stattfinden können, berichtet er Clara Haskil mit trockenen Worten und gewohnter Selbstkritik: »In St. Gallen war das Publikum ausgezeichnet, der Pianist dagegen farblos und mittelmäßig. In Biel war das Publikum ebenfalls ausgezeichnet und der Pianist etwas besser, wenn auch mit seinen Gedanken woanders […]. Und jetzt: Bettruhe auf höheren Befehl. […] Ihr alter und recht zittriger Dinu.«89 84Erschienen auf der CD EMI CDH 7 69792 2. 85Brief vom 30.03.1947 an Florica Musicescu, zit. nach Bărgăuanu / Tănăsescu, 1991, S. 94; »Ich kann Ih-nen gar nicht sagen, wie sehr der Klang der rumänischen Musik nahesteht. Mit Bewegung habe ich das festgestellt. Das Konzert ist sein allerletztes Werk.« Lipattis Einspielung des Konzerts unter Sa-cher ist auf der CD EMI 5 67572 2 veröffentlicht. 86Brief vom 30.03.1947 an Florica Musicescu, zit. nach a.a.O., S. 95; »sehr wild und dissonant, […] aber dennoch sehr interessant.«87Brief vom 31.03.1947 an Mihail Jora, zit. nach a.a.O., S. 65; »Die große Gestalt der Gegenwart, wun-derbar strahlend in ihren letzten Werken, das ist Béla Bartók, der große, ganz große Komponist unse-rer Zeit …«.88Brief vom 23.05.1948 an Georges Schwob, hrsg. in Gendre, 1980, S. 198; »Ich habe eine Hundelaune und beglückwünsche die Kollegen meiner Generation, denn wenn ich die meiner Vitalität entspre-chende Gesundheit hätte, kämen sie nicht mehr dazu, in Europa auch nur eine Note zu spielen, so sehr wäre ich überall zugleich, um drei Recitals am Tag zu geben!«89Brief vom 17.01.1948 an Clara Haskil, in der deutschen Übersetzung zit. nach Spycket, 1977, S. 190.