4.4 Konzert- und Kompositionstätigkeit611949 können nur vereinzelte Auftritte stattfinden. So fragt er Haskil, ob sie für ihn in Bern auftreten könne: »Sie würden mir damit […] eine große Freude machen – ich selber darf bis Oktober 1949 keine Konzerte geben.«90 Wenig später berichtet er hoffnungsvoll von einem neuen Medikament, »gaz moutarde d’azote«,91 das zwar unangenehme Nebenwirkungen hervorrufe, doch eine ausgezeichnete Besserung seines »piteux état«92 bewirke. Im Herbst zeigt er von der Klinik in Montana aus trotz Bettlägerigkeit ebenfalls vorsichtigen Optimis-mus: »Seit vier Tagen leiste ich mir allabendlich beinahe 39° Fieber. Mein Kopf ist schwer wie Blei und ich darf das Bett nicht verlassen. […] Wenn Sie kommen soll-ten, werde ich eine Kadenz für Sie schreiben, und wir werden Pläne machen für künftige Klavierabende!«93Auch ein Engagement in New York kann krankheitsbedingt nicht mehr wahrge-nommen werden.94 Lipattis letztes Orchesterkonzert findet am 23.08.1950 in Luzern statt, wo er unter Karajan das Klavierkonzert Nr. 21 C-Dur von W. A. Mozart spielt.95 Aus einem anlässlich des Festivals in Luzern stattfindenden Interview geht hervor, dass das Konzert entgegen der tatsächlichen Entwicklung von der Öffent-lichkeit als Auftakt nach wiedererlangter Gesundheit begrüßt wird.96Bei seinem letzten Recital mit Werken von Bach, Mozart, Schubert und Chopin am 16.09.1950 während des IIIe Festival International de Besançon erleidet Lipatti einen Schwächeanfall und beendet die Aufführung vorzeitig mit dem Bachchoral Jesus bleibet meine Freude.97 Das immer wieder als Vermächtnis und legendärer Ab-schied rezipierte Konzert98 scheint für Lipatti keineswegs bewusst das letzte gewe-sen zu sein. Unmittelbar danach schreibt er an Sacher: »Toutes nos pensées affec-tueuses d’une ville enthousiaste où j’ai failli rater le concert par maux de rayons et où finalement tout s’est bien passé.«99 In einem Interview vom 27.09.1950 äußert sich Lipatti zwar realistisch zu dem Recital: »Mais une heure avant le concert, j’étais si faible qu’il m’a fallu envisager de jouer seulement la première partie de mon réci-tal. Mais une fois sur l’estrade, je l’ai donné en entier, soutenu par une atmosphère90Brief vom 20.02.1949 an Clara Haskil, in der deutschen Übersetzung zit. nach Spycket, 1977, S. 198.91Brief vom 14.03.1949 an Nadia Boulanger, Muzica 4/2000, S. 71.92Ebd.; »erbärmlichen Zustands«.93Brief vom 08.09.1949 an Clara Haskil, in der deutschen Übersetzung zit. nach Spycket, 1977, S. 200f.94Vgl. Brief vom 29.06.1950 an Constantin Brăiloiu, hrsg. in: Bărgăuanu, Grigore: Corespondența dintre Dinu Lipatti și Constantin Brăiloiu, in: Muzica. Revistă editată de Uniunea Compozitorilor și Muzi-cologilor din România, Serie nouă, Bukarest, Nr. 4/2003, S. 73.95Erschienen auf der CD EMI 7 69792 2.96Vgl. Interview mit Henri Jaton für Radio Suisse Romande vom August 1950, ohne genauere Datums-angabe veröffentlicht auf der CD »Hommage à Haskil et Lipatti« TAH 2.366–2.367.97Ohne den Bachchoral erschienen auf der CD EMI 7 63038 2.98Zur Deutung des Konzerts als national-repräsentativer Kulturbeitrag Rumäniens vgl. Cerbu, Anton: Dinu Lipatti și prezența românescă, in: Caete de Dor, Nr. 4, Paris Oktober 1951, S. 36f.99Brief vom 16.09.1950 an Paul Sacher, Sacher, 1951, S. 82; »Unsere herzlichsten Gedanken aus einer enthusiastischen Stadt, wo ich wegen Beschwerden infolge der Bestrahlung fast das Konzert verpatzt hätte und wo letztendlich alles gut verlaufen ist.«