III Die rumänische nationale Schule und ihre Orientierung an Frankreich 1Kennzeichen der Volksmusik in RumänienWalter Legge, Tonmeister und Produzent zahlreicher Einspielungen Lipattis, sieht einen Widerspruch innerhalb Lipattis musikalischem Schaffen: »Lipatti’s Composi-tions which I have seen have one astonishing characteristic. His Balkan blood, of which there was no trace in his playing of Western music, suddenly dominates him.«1 Auch wenn Rumänien nicht auf dem Balkan liegt, trifft Legges Äußerung einen auffälligen Unterschied zwischen dem pianistischen und kompositorischen Schaffen Lipattis, die Verwurzelung in der rumänischen Musikkultur. Die rumäni-sche nationale Schule, die Lipattis Werdegang beeinflusst und die er umgekehrt auch mit weiterprägt, macht sich identitätsstiftende volksmusikalische Elemente zu eigen, wie der mit Lipatti befreundete rumänische Musikethnologe und Komponist Constantin Brăiloiu (1893–1958) beschreibt: »La musique populaire a d’abord attiré l’attention par une certaine originalité ou en raison de son importance du point de vue patriotique, en tant que tradi-tion ›nationale‹. C’est pour ces deux causes qu’en certains pays elle a été utili-sée à dessein comme matière première, mélodique ou rythmique, de composi-tions savantes, ceux qui en usaient ainsi formant les écoles nationales bien connues.«2 Im Folgenden sollen Besonderheiten, Gattungen und Topoi der rumänischen Volks-musik skizziert werden, die direkte oder subtile Verarbeitung in Lipattis Komposi-tionen finden. 1Legge, 1951, S. 195.2Brăiloiu, Constantin: L’ethnomusicologie. II. Étude interne (Paris, 1958), in: Opere / OEuvres II. Tradu-cere și prefață de Emilia Comișel, Bukarest 1969, S. 181; »Die Volksmusik hat zuerst Aufmerksamkeit gefunden durch ihre gewisse Originalität oder wegen ihrer Wichtigkeit in patriotischer Hinsicht, als ›nationale‹ Tradition. Aus diesen beiden Gründen ist sie in bestimmten Ländern absichtlich als melo-discher oder rhythmischer Rohstoff gelehrter Kompositionen verwendet worden, und die, die sie nutzten, bilden die bekannten nationalen Schulen.« Der Ausdruck »compositions savantes« lässt er-kennen, dass nicht nur die Definition der Volks-, sondern auch die der Kunstmusik nationale Unter-schiede aufweist.