1.2 Forschungsstand zur Zeit Lipattis71Die aus diesen Kennzeichen resultierenden Wesenszüge funktionelle Gebundenheit, Beständigkeit bei gleichzeitiger Spontaneität, Lebensnähe, Anpassungsfähigkeit, unmittelbarer und für alle verständlicher Ausdruck und Kontinuität21 unterschei-den sich für Brăiloiu grundsätzlich von denen der Kunstmusik: »Our official music is the property of an educated milieu or of an élite. […] our musical art has no other aims than aesthetic ones. […] Let us remember, also, that the laws of total originality and of textual reproduction are only proper to Europe, and only for the last two centuries.«22 Die Besonderheit der lebendigen, da mündlichen Überlieferung schließt stete Modi-fizierung ein, führt zu einem großen Variantenreichtum durch ständige Transfor-mierung. Dieser Grundzug werde von der etablierten Musikwissenschaft häufig ge-gensätzlich gedeutet: Aus akademischer Sicht würden Veränderungen in den Über-lieferungen in der Regel als Fehler der Erinnerung bzw. Irrtümer bei der Wiederga-be dargestellt, während Volksmusikforscher wie Brăiloiu als Feldforscher gerade in der steten Veränderung eine ureigene Besonderheit der lebendigen Volksmusik se-hen, denn in der Kunst der Variationsfähigkeit und Spontaneität zeigten sich Leben-digkeit und Entwicklungsfähigkeit.23 Basis der Volksmusik sind nach Brăiloiu weniger Stücke einzelner Individuen als vielmehr bestimmte typische Grundelemente, »primary vocables«24 wie Skalen, Rhythmen und melodische Strukturen, die inspirierend wirken können bis hin zu einem ganzen Gesang: »a creative work takes place this time. Would it be individu-al? It might be. […] It is collective creation.«25 1.2 Forschungsstand zur Zeit LipattisDie ersten schriftlichen Überlieferungen von volksmusikalischer Tradition in Rumä-nien finden sich im 16. Jahrhundert, meist in kirchlichen Zusammenhängen. Bis in das 19. Jahrhundert handelt es sich vor allem um einzelne regional begrenzte Sammlungen,26 die jedoch noch keinen wissenschaftlichen Kriterien unterliegen und oftmals nicht zwischen authentischem Material und dessen kompositorischem Neuarrangement, häufig westlich-klassischer Prägung, unterscheiden, wenn es sich nicht sogar um Eigenkompositionen im »alten« Stil handelt.27 Die ernsthafte musik-wissenschaftliche Beschäftigung findet ab Beginn des 20. Jahrhunderts statt, als mit dem Phonographen erste systematische Feldforschungsreihen unternommen wer-21Vgl. Brăiloiu, Musical folklore, 1984, S. 3.22Brăiloiu, Constantin: Reflections on collective musical creation (1959), in: Ders., 1984, S. 102.23Vgl. Brăiloiu, Musical folklore, 1984, S. 8f.24Brăiloiu, Reflections on collective musical creation, 1984, S. 108.25Ebd. 26Eine Übersicht über die veröffentlichten Sammlungen seit Forschungsbeginn findet sich bei Alexan-dru, Tiberiu: Romanian Folk Music, Bukarest 1980, S. 227ff.27Vgl. Alexandru, 1980, S. 119, ff.