1.2 Forschungsstand zur Zeit Lipattis73mündlichen Musiktradition nicht zuletzt in deren gesellschaftlicher Bedeutung: »Il n’a encore été découvert nulle part une société humaine, si ›arriérée‹ fût-elle, qui ignorât la musique.«36 Doch handele es sich dabei nicht um eine ›Kunst‹ im westli-chen Sinne, sondern sie sei an soziale Funktionen und Brauchtum gebunden.37 Bar-tók hebt die Bedeutung der Volksmusik für zeitgenössische Komponisten hervor, die stärker als Volkskultur in der Dichtung oder bildenden Kunst ein Interesse bei schaffenden Musikern wecke: »So daß es sich hier nicht nur um die Erreichung rein wissenschaftlicher Ergebnisse handelt, sondern auch um solche, die auf schaffende Musiker anregend wirken.«38 In der Regel, so Brăiloiu, werde die traditionelle Kultur der Naturvölker jedoch abfällig der Hochkultur der gebildeten Schichten gegenüber gestellt, die sich auf Ra-tionalität, Unterricht, wissenschaftliche Untersuchung gründe.39 So stehe inzwi-schen fast jede Region der Welt »à l’abri des influences occidentales.«40 Solches dok-trinäre Denken fördere den Graben zwischen der gelehrten und der Volkskunst, an-statt die stetige gegenseitige Durchdringung dieser Kulturen zur Kenntnis zu neh-men. Hart kritisiert Brăiloiu die Ignoranz der westlichen Musikforschung, »a civili-zation superior to all others«,41 die zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwa mündlich überlieferte Lieder nach westlicher Manier harmonisiere und dadurch die Quellen verfälsche, Niederschriften in gewohnten »klassischen« Intervallen und Metren vor-nehme, das zum Liedgut zugehörige Brauchtum ignoriere und damit dem Gegen-stand schon in den Grundvoraussetzungen nicht gerecht werde. Er spricht vom »blind faith in the omnipotence of ›progress‹«42 und merkt an: »It would be worth undertaking one day an anthology of European deafness.«43 Die größte Problematik des Forschungsbereiches liegt in der Vernichtung der Ursprünglichkeit und damit der Authentizität des Untersuchungsgegenstands. So gelten die oben genannten Kennzeichen der Volksmusik, die auf die authentische soziale Eingebundenheit zurückzuführen sind, nicht mehr ab dem Zeitpunkt der Veröffentlichung und Verbreitung in anderen Kontexten. Brăiloiu betont zudem die wechselseitige Beeinflussung der musikalischen Gewohnheiten der unterschiedli-chen sozialen Schichten, da es nicht nur eine Tendenz der Auflösung bäuerlich ab-geschiedener Lebensgemeinschaften gebe, sondern ebenso immer schon ein umge-kehrtes Interesse an der exotisch-attraktiv anmutenden Musik der unteren Schich-ten. Als Beispiele nennt er »imitation of popular forms by the trouvères; para-phrases of street-cries by Charles d’Orléans; the use of street songs by the sixteenth-century-polyphonists […] and finally, in the nineteenth century, a positive infatu-36Brăiloiu, L’Ethnomusicologie, 1969, S. 169; »Man hat noch nie eine menschliche Gesellschaft entdeckt, sei sie noch so ›rückständig‹, in der Musik keine Rolle gespielt hat.«37Vgl. a.a.O., S. 170. 38Bartók, Musikfolklore, 1951, S. 296.39Vgl. Brăiloiu, L’Ethnomusicologie, 1969, S. 170f. 40Brăiloiu, a.a.O., S. 173; »unter dem Obdach abendländischer Einflüsse.«41Brăiloiu, Musical folklore, 1984, S. 26.42Ebd. 43Ebd.