1.4 Wurzeln der Volksmusik im rumänischen Hirtentum 79ten in verschiedenen Regionen und Zeiten auch eine Einheit bilden.77 Kennzeich-nend für die typischen Lied- und Instrumentalgattungen der Hirtenkultur ist deren Nutzfunktion: »Closely related to the everyday life of the shepherd they facilitate his work and the same time adorn it.«78 Doch gelöst aus der ursprünglichen Erfah-rungswelt finden sich Bezüge zur Hirtenkultur bis heute auch in der sesshaften Be-völkerung und wurde diese zu einem identitätsstiftenden Bestandteil der rumäni-schen Musik überhaupt: »Das Hirtentum ist […] lebendig im sozialen, ökonomi-schen und historischen Leben; es gehört zu dem von den Rumänen bewohnten Ter-ritorium wie auch zur gelehrten Kultur.«79Direkte musikalische Einflüsse der Hirtenkultur auf die rumänische Volksmusik zeigen sich in Repertoire und Instrumentarium.80 Bedeutsam für das Etablieren ei-ner idealisierten Vorstellung von der Hirtenwelt in der städtischen Kultur ist jedoch der mythologische Hintergrund mit zum Teil archaischen Glaubens- und Weltan-schauungen. Die Hirtentradition geht von einer natürlichen Einheit von Pflanzen-, Tier- und Menschenwelt aus, das »Menschenschicksal findet nach dieser Vorstel-lung in der Natur seinen Widerschein und Widerhall.«81 Ebenso selbstverständlich ist die Überschreitung der natürlichen Grenzen von Tier und Mensch, indem den Hirten in der Mythologie magische Fähigkeiten als Quelle des Lebens, der Kraft und der Fruchtbarkeit zugesprochen werden. Diese natürliche und göttliche Ver-bundenheit prägt viele volksmusikalische Inhalte. So kommt etwa der häufig be-sungenen Tanne wegen ihrer Größe und ihres ganzjährigen Grüns sakrale Bedeu-tung und die Symbolik der kraftvollen Jugend zu. Das Hirtentum spielt auch in den Gründungsmythen der rumänischen Fürsten-tümer eine entscheidende Rolle, in denen von drei Hirten-Brüdern, manchmal Hir-ten-Vettern die Rede ist, die aus Transsylvanien, der Moldau und der Walachei stammen.82 Eine weitere Sicht spricht dem Hirten fürstliche Abstammung, kaiserli-che Herkunft zu.83 Grundlegende Motive der rumänischen Literatur und Kunst entstammen seit dem Mittelalter der pastoralen Orallyrik, sind Schilderungen aus Alltag und Vor-stellungswelt des Hirtenlebens, »ohne die Mutter, die Genesis zahlreicher Handlun-gen, die Hirtin und die Geliebte des Hirten zu vergessen. Fügen wir zu diesen das […] Tierreich, den Hammel, das Schaf, die Hündin, den Kuckuck, das Pferd … hin-zu, sieht man, wie reich und mannigfaltig das poetisierte Hirtenuniversum ist.«84 77Vgl. Buhociu, 1974, S. 158: »Es ist festzustellen, daß die Rumänen, Nachfahren der romanisierten Da-ko-Geten, in dem genannten Gebiet [Karpaten-Schwarzmeerraum – M. J.] die Eigentümlichkeit auf-weisen, daß die meisten ihrer Hirten zugleich Ackerbau betreiben; sie praktizieren archaische Agrar-riten und widmen sich […] zugleich auch in breitem Umfang der Großviehzucht.« 78Alexandru, 1980, S. 46.79Buhociu, 1974, S. 158.80Vgl. III.1.9 »Volksmusikalisches Instrumentarium«.81Friedwagner, Matthias: Rumänische Volkslieder aus der Bukowina, Bd. 1, Liebeslieder, Würzburg 1940, S. XXXIII.82Vgl. Buhociu, 1974, S. 241ff. 83Vgl. a.a.O., S. 270ff.84A. a.O., S. 243.