80Kennzeichen der Volksmusik in RumänienPastorale Topoi sind etwa der Verlust eines Schafes, tödliche Gefahren oder auch die Beschreibung des himmlischen Hirtenparadieses, musikalisch typischerweise ausgedrückt durch die Flöte. Zum Sinnbild der rumänischen Hirtenkultur und zu einem Kernthema der rumänischen Volksepik wurde die lange mündlich überliefer-te und 1850 erstmals verschriftlichte85 Ballade Miorița: Ein Lamm warnt seinen jun-gen Hirten, dass er bald von seinen Kameraden aus Neid ermordet werde. Der Hir-te denkt nicht an Verteidigung, sondern teilt seinen letzten Willen dem wahrsagen-den Lamm mit: Er will im Schafstall neben seinen Schafen begraben werden, und auf sein Grab soll man seine Flöte setzen, damit der Wind für ihn spiele. Von Mord soll man nicht sprechen, vielmehr davon, dass er eine Königin geheiratet habe, mit den Bergen als Priestern, Sonne und Mond als Paten, Bäumen als Hochzeitsgästen, Vögeln als Sängern und Sternen als Lichtern.86 In diesem Mythos zeigt sich die Natur als Gegenüber und als eine personifizierte Lebenswelt, in der die Musik des Hirten seinen Tod überdauert, weil er sie der Na-tur, dem Wind, anvertraut.Brăiloiu untersucht Spuren dieses Stoffes im rumänischen Brauchtum und ver-weist vor allem auf den Vergleich des Todes mit der Hochzeit, der sich bereits im antiken Griechenland und in mündlichen Überlieferungen auf dem gesamten Bal-kan finde. So tritt zum Mythos der traditionelle Beerdigungsritus für einen unver-heirateten jungen Menschen: Er wird mit Brautkleidern geschmückt, weiter zeigen sich verwandte Züge zur Hochzeit mit Festmahlzeit und Frauenchören: »simulacres d’épousailles posthumes«.87 Ein Grund dafür sei der Volksglaube an eine mögliche Wiederkehr ermordeter junger Seelen gewesen, da man so den Toten im Nachhin-ein die Erfüllung ihres irdischen Daseins vermittelt und Ruhe gegeben habe.88 Auch finde sich das Bild der Natur als trostvolle Heimstatt in Liedern zum Tod von Sol-daten fern der Heimat und der Familie. Buhociu stellt die Identifizierung mit diesem Stoff heraus, Miorița sei oft »als eine Verkörperung aller Tugenden des rumänischen Volkes«89 betrachtet worden. Aufgrund dieser Bedeutung spricht Brăiloiu von einer »ethno-philosophie ›mioriti-que‹«90 im kulturellen rumänischen Selbstverständnis, die in dem Gegenstand der Rückkehr in das Innerste der Natur das Wesen der nationalen Psyche und eines ur-alten Pantheismus sehe.91 Bedenklich an diesem Stoff als Fundament eines nationa-len Charakterzuges sei jedoch die fatalistische Passivität und Kampflosigkeit, mit der der Hirte sich in sein Schicksal füge.9285Der Dichter war Basile Alecsandri. Bis heute wurden annähernd 1000 verschiedene Versionen des Stoffes veröffentlicht, vgl. a.a.O., 1974, S. 282. 86Vgl. ebd.87Brăiloiu, Constantin: Sur une Ballade roumaine: La Miorița, Genf 1946, S. 7; »Trugbilder einer post-humen Hochzeitsfeier«. 88vgl. a.a.O., S. 12.89Buhociu, 1974, S. 282.90Brăiloiu, 1946, S. 4. 91Vgl. ebd.92Vgl. ebd.