1.4 Wurzeln der Volksmusik im rumänischen Hirtentum 81Ein anderes, weniger fassliches Thema in der Hirtenkultur ist das der Sehnsucht und Fremdheit, hervorgegangen aus dem Wanderhirtentum, das ein Verlassen der Heimat notwendig macht. Es handelt sich um den schwermütigen Seelenzustand »der Unruhe und beherrschten Leidens, der um sich greifenden Melancholie, der Nostalgien, die die Gedanken wiegen, der Vorahnungen, die manchmal die Seele traurig stimmen, manchmal ihr aber Trost und Hoffnung ankündigen«.93 Im Rumä-nischen wird dieser Zustand »dor«, oder, mit nachgestelltem direktem Artikel, »dorul« genannt, »mot intradusible«,94 das meist mit »Sehnsucht, Verlangen«, bzw. als »dor de țară« oder »dor de acasă« mit »Heimweh« übersetzt wird. »Dor« drückt jedoch nicht nur einen schmerzlichen Gefühlsgehalt aus, sondern kann auch »ein Vorläufer der Liebe und manchmal mit ihr identisch«95 sein. Der rumänische Mu-sikwissenschaftler und Musikpädagoge George Breazul (1887–1961) hebt den Ein-fluss des »dorul« auf die Kunst hervor, indem er feststellt, »dieser so charakteristi-sche Seelenzustand des rumänischen Volkes, findet nirgends so Deutung wie in der Musik«.96 Die musikalische Gattung, in der das »dorul« seinen Ausdruck findet, ist die Doina.97Auch Lipatti verwendet 1949 den rumänischen Ausdruck in zwei ansonsten auf französisch verfassten Briefen an Boulanger und Brăiloiu: »nous avons très ›dor‹ de vous (cela veut dire en roumain: ›nostalgie d’une personne aimée‹)«98 und »avons ›dor‹ de vous.«99Enescu bezieht sich indirekt auf das »dorul«, wenn er in einem Nachruf auf Li-patti schreibt, er habe in Bezug auf Lipattis Kompositionen gehofft, »que mon pays natal trouve en Lipatti un poète …[…] capable de chanter sa nostalgie infinie«.100 Inwiefern die traditionelle Musik der rumänischen Bauern, Hirten und Lăutari in Lipattis Kompositionen Eingang findet, wird Gegenstand der Werkanalysen in Kapitel IV sein.93Buhociu, 1974, S. 231.94A. Lipatti, 1967, S. 64; »nicht übersetzbares Wort«. Anna Lipatti erläutert weiter (ebd.): »mélange de nostalgie, d’amour, de souffrance, mal du pays.« (»Eine Mischung aus Sehnsucht, Liebe, Leiden, Heimweh.«)95Buhociu, 1974, S. 231.96Breazul, 1936, S. 4.97Vgl. III.1.5.2 »Doina«.98Brief vom 31.01.1950 an Nadia Boulanger, Muzica 4/2000, S. 83; »Wir haben großes ›dor‹ nach Ihnen (das bedeutet im Rumänischen: ›Sehnsucht nach einer geliebten Person‹)«. 99Brief vom 14.02.1949 an Constantin Brăiloiu, Muzica 4/2003, S. 70; »Wir haben ›dor‹ nach Ihnen.«100Enescu, George: Hommage, in: Lipatti, Madeleine (Hrsg.), 1970, S. 63; »dass mein Heimatland in Li-patti einen Dichter findet, der fähig ist, dessen unendliche Sehnsucht zu besingen.« Die rumänische Sprache kennt nur einen Ausdruck, »a cânta«, für »singen« und »spielen«, weshalb sich hier das französische »chanter« findet.