82Kennzeichen der Volksmusik in Rumänien1.5 Gattungen der rumänischen Volksmusik Die rumänische Volksmusiktradition weist eine große Heterogenität auf, verstärkt durch regionale Zersplitterung und wechselnde politische Einflusssphären.101 Der Komponist und Musikwissenschaftler Corneliu Dan Georgescu unterscheidet groß-räumig die vier Gebiete Karpaten, Donauebene, Moldau und das Hochland Trans-sylvaniens, in denen jeweils spezifisch ausgeprägte musikalische Eigenheiten in Lie-dern und Tänzen zu finden seien. Hingegen zeige die rituell gebundene, vor dem Mittelalter entstandene Musik eine übergreifendere Einheit.102 Brăiloiu nennt für die in Bezug auf Lipatti interessante Zeit der 40er Jahre im musikalischen Brauchtum die drei Hauptanlässe Hochzeit, Beerdigung und Winter-feste, unter denen die Beerdigung das am lebendigsten erhaltene Repertoire aufwei-se.103 Daneben existieren Reste alter heidnischer Rituale, z. B. Lieder der »Regenma-cher« (»Paparude«) und eine Vielzahl brauchtumsungebundener Lieder des Alltags, der Jahres- und Lebenskreise. Die epischen oder lyrischen Lieder des volksmusikali-schen Repertoires umfassen demnach die brauchtumsungebundenen »Cântece«, die für Rumänien typische Form der »Doina«, die »Bocete« genannten Klagelieder, die Weihnachts- und Neujahrslieder »Colinde« und »Cântece de stea« und Kinderlied-gut. Im instrumentalen Bereich existiert neben den brauchtumsgebundenen Tänzen, vor allem zur Hochzeit, der sonntägliche Dorftanz »Hora sătului« mit teils vokaler Begleitung. Durch die Spielpraxis der Lăutari haben sich in einigen Gegenden zu-nehmend instrumentale Versionen ursprünglich vokaler Gattungen wie Ballade oder Doina durchgesetzt. Die folgende Darstellung104 beschränkt den Gesamtüber-101Vgl. III.2.2 »Entstehung des Nationalstaates Rumänien« und III.2.3 »Die Herausbildung einer natio-nalen kulturellen Identität«.102Vgl. Georgescu, Corneliu Dan: Rumänien, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik (MGG), hrsg. von Friedrich Blume, zweite, neubearbeitete Ausgabe, Sach-teil, Bd. 8, Kassel / Stuttgart 1998, Sp. 589. 103Vgl. Brăiloiu, Constantin: La musique populaire roumaine, in: La revue musicale, Paris 1940, S. 148. 104In der allgemeinen Darstellung stütze ich mich auf die bereits genannten Arbeiten von Alexandru, Bartók, Brăiloiu und Friedwagner sowie auf Ziehm, Elsa: Rumänische Volksmusik. Dargestellt an den Schallaufnahmen des Instituts für Lautforschung an der Universität Berlin, Berlin 1939. Außer-halb Rumäniens gibt es aktuell offenbar nur ein geringes Forschungsinteresse an der rumänischen Musik, so dass die ausführliche Literatur zu einem großen Teil aus der ersten Jahrhunderthälfte stammt. Abgesehen von Bartók, der vehement Stellung gegen eine rassisch orientierte Sichtweise be-zieht, stellt diese bei anderen Autoren dieser Zeit allerdings ein Problem dar. Äußerungen wie »Ras-sentempo« (Ziehm, S. 44), »Die Verschiedenheit [des Tonvorrats] ist teils kulturell, teils auch wohl rassisch begründet« (a.a.O., S. 25/26), »Gewiß ist, daß jedem Volke, jeder Rasse ein metrisches Sche-ma besonders gut entspricht« (a.a.O., S. 41) lassen hellhörig werden und zeigen eine Suche nach ab-grenzender Schematisierung auf Kosten differenzierender Darstellung. Mitunter machen das 1939 herrschende völkische Vokabular und entsprechende ideologische Aburteilungen den Text unlesbar und verdrängen die wissenschaftliche Analyse (z. B. »leben die rumänischen Zigeuner ein völkisches Eigenleben innerhalb des Wirtsvolkes« (a.a.O., S. 51), »rassische Verwandtschaft mit den arischen Stämmen Nordindiens« (a.a.O., S.52), »Im Gegensatz zu der klaren, organischen Architektur der bo-denständigen Bauernvolkslieder wirkt das Stilgemisch der Zigeunerlieder kulturlos und ebenso äs-thetisch wie volkskundlich unbefriedigend« (a.a.O., S. 56)). Die zahlreichen bei Ziehm ausgewerteten Notenbeispiele des rumänischen Brauchtums erlauben dennoch einen aufschlussreichen Überblick.