92Kennzeichen der Volksmusik in RumänienDie Sänger dieser Heische-Lieder werden wiederum mit Gebäck und Getränken be-wirtet oder mit Geld beschenkt. »Colind« oder »Colindat« nennt sich das gesamte Ritual, und »Colinda« ist auch der Name für den verwendeten Haselnussstrauch; »wird mit ihm ein Gegenstand oder ein Wesen geschlagen oder berührt, empfängt es dem Wachstum, der Gesundheit und der Verjüngung förderliche Eigenschaften und Kräfte. Gleiche Magie wohnt auch dem gesungenen bzw. gesprochenen Text der Colinda inne«.136 Unterschieden werden weltliche Colinde, die älteren, heid-nischen Ursprungs sind und Motive des Kampfes gegen wilde Tiere wie Löwe, Au-erochs, Hirsch, Bison tragen und neuere, »Cântece de stea«137 genannte, religiöse Colinde mit christlich-pädagogischem und teilweise missionarischem Impetus, die zumeist ein humanisiertes Bild von Gott und den Heiligen zeichnen: »God, like any other old shepherd blows the flute to his sheep; God and St. Peter, dressed as beggars, are chased away from the house of the rich man, but are well received and entertained in the poor man’s house, and so on.«138 Sie übertragen die biblischen Geschichten meist in den Kontext bäuerlichen Lebens, »une bible pleine de réso-nance païennes«,139 weisen jedoch auch Einflüsse mittelalterlicher Aristokratie auf.140 Die Kehrverse sind inhaltlich von den Strophen gelöst und orientieren sich an den Adressaten: »junele bun« (»der gute Bursche«) für junge Männer, »florile dalbe« (»weiße Blumen«) für Jungfrauen und der unübersetzbare Ausruf »lerui-ler« für Verheiratete.141Auch musikalisch unterscheiden sich die meist als Ballade aufgebauten Colinde von den neueren »Cântece de stea«, die ihren westlichen Einfluss in strophischem Aufbau und Dur-Moll-Tonalitäten erkennen lassen. Charakteristisch für die Colin-da-Melodien ist der oftmals antiphone Aufbau mit Kehrvers und Wechselgesang zwischen Vor- und Nachsängern oder zwei Gruppen. Gheorghe Firca hebt die Bedeutung des Rhythmus als Besonderheit der Colinda-Melodien hervor, da die Unterscheidung zwischen Strophe und Kehrvers oftmals auf lediglich anderen rhythmischen Verteilungen derselben Intonationsstruktur be-ruhe.142 Auch Alexandru verweist auf die Vielfalt mono- wie polyrhythmischer Strukturen, die auch Besonderheiten wie den Aksak-Rhythmus143 und Synkopie-rungen aufwiesen und kommt zu dem Schluss: »the rhythm of the colinde is the ri-chest and the most varied in the whole of the romanian folk music tradition.«144 Weitere Kennzeichen sind knappe Melodiebildung mit oftmals auf eine Quinte oder Sexte beschränktem Ambitus in überwiegend diatonischen, wenn auch variie-136Buhociu, 1974, S. 73.137»Sternenlieder«.138Alexandru, 1980, S. 11.139 Brăiloiu, 1940, S. 147; »eine Bibel voll heidnischer Anklänge«. 140Vgl. Buhociu, 1974, S. 574.141Vgl. z. B. a.a.O., S. 235f.142Vgl. Firca, Gheorghe: Sur un principe de variation spécifique à la création roumaine contemporaine, in: Revue roumaine d’histoire de l’art. Série thèâtre, musique, cinéma XXXIII,1996, S. 34.143Vgl. III.1.6.2 »Aksak«.144Alexandru, 1980, S. 13.