94Kennzeichen der Volksmusik in Rumänienlehnung vor allem durch die lutherische Kirche und zur Einführung und Protegie-rung der gefälligeren, demütig zurückhaltenden und häufig von Kindern gesunge-nen »Cântece de stea« geführt habe.150 Lipatti verwendet eine Colinda als Thema und Material für sein Nocturne (Thème moldave), so dass einige der genannten Kennzeichen für die Analyse des Stückes bedeutsam werden.151 Die Tatsache, dass sich gerade diese Colinda in keiner der vorliegenden Sammlungen findet, lässt Lipatti in diesem Nocturne, ob gewollt oder unbewusst, zu einem Bewahrer und Multiplikator rumänischer Volksmusik werden.1.5.4 BalladaDie episch angelegten Balladen, auch »Cântecul bătrânesc« (»althergebrachter Gesang«) genannt, haben historische, gesellschaftliche oder mythologische Inhalte. So wird auch die oben geschilderte Miorița-Legende152 in einer Ballade transportiert. Alexandru weist darauf hin, dass in der neueren Zeit auch bei Balladen die ursprüngliche Text-Melodiebindung aufgehoben sei und wie bei der Colinda ein Text auf unterschiedliche Melodien gesungen bzw. eine Melodie zum Träger verschiedener Texte werde.153 Musikalisch charakteristisch sind weit chromatisierte Skalen mit fluktuierenden Stufen und die Melodiebildung im freien parlando-rubato-Zeitmaß. Besonders im Süden sind orientalische Einflüsse erkennbar, da die Balladen, ähnlich dem Prinzip des arabischen Maqam,154 häufig nicht auf fixierten Melodien beruhen, sondern improvisatorisch flexibel mit einzelnen, feststehenden Melodieelementen umgehen. Sie werden eingeleitet von einem Instrumentalvorspiel und mit Zwischenspielen versehen, die dem Gesang ebenbürtig sein können. 150Namentlich nennt Alexandru den lutherischen Minister Andreas Methesius von Cergeaul-Mic in Sie-benbürgen und dessen Charakterisierung der alten Colinde als ›gemein‹ und ›teuflisch‹, vgl. Alexan-dru, 1980, S. 14.151Vgl. IV.2.2.1 »Nocturne (Thème moldave)«.152Vgl. III.1.4 Wurzeln der Volksmusik im rumänischen Hirtentum.153Vgl. Alexandru, 1980, S. 61.154Vgl. a.a.O., S. 59ff.