1.6 Rhythmisch-metrische Merkmale in der rumänischen Volksmusik99den kindlichen Alltag. Brăiloiu sieht im Kinderliedgut ein Substrat der tradierten Kulturen: »Our children continue to repeat melodic embryos that we did not teach them but which, like them, the inhabitants of Oceania, the Eskimos and the black races know, and which explorers used to hear among the ›savages‹ they had discovered: it was unnecessary for them to be brought back from China before the sixteenth century by a missionary. They defy space. They are sung in fifth in the Caucasus and in Bali, in thirds in Africa and in New Guinea, in seconds in Formosa and in Dalmatia.«160Daher spricht er der immer stärker veränderten Volksmusik der Gegenwart einen authentischen Rest der ursprünglichen Tradition zu: »Moreover there is one com-ponent of society, at least, in which the intention of the ancestral gesture has not been forgotten, that is the world of children.«161Durch diese Komponente der historischen Authentizität erhalten die Kinder-rhythmen auch allgemeine kompositorische Bedeutung. So beruft sich z. B. der ru-mänische Musikwissenschaftler Gheorghe Firca auf diese Forschungen Brăiloius, um die Verankerung des bei rumänischen Komponisten, auch bei Lipatti, häufigen Variationsprinzips in der rumänischen Volksmusik herauszustellen, da die Kinder-folklore ein bedeutsames Beispiel für extreme variative Ausschöpfung einfachster Elemente sei.162 Neben der oft als schematisch empfundenen Dreiklangsintervallik gilt vor allem der rhythmische Aufbau in paarweise gebildeten Zeitschemata als signifikant. Er wird daher in die folgende Darstellung rhythmischer Besonderheiten der rumäni-schen Volksmusik aufgenommen. Eine Bezugnahme zum Kinderliedgut klingt auch bei Lipatti vor allem in rhyth-mischer, aber auch melodischer Hinsicht an, etwa im Finalsatz der Sonatine pour pia-no (main gauche seule). 1.6 Rhythmisch-metrische Merkmale in der rumänischen VolksmusikDie rhythmische Vielfalt der rumänischen Volksmusik beruht auf verschiedenen Systemen, in denen Isorhythmie und Isometrie ebenso wie Polyrhythmie und Poly-metrie grundlegende Gestaltungsprinzipien sind. Als prägend für die Instrumental-musik gelten das System des syllabischen Giusto, Aksak, parlando-rubato und Kin-derrhythmen, die im Folgenden dargestellt werden. 160Brăiloiu, Constantin: Former life (Paris, 1963), in: Ders., 1984, S. 129. Brăiloiu merkt jedoch an, dass nicht nachgewiesen sei, dass der Entstehungshintergrund der Kinderlieder tatsächlich ausschließlich in der kindlichen Welt zu suchen sei, da man als Ursprung mancher dieser Lieder auch Arbeitslieder erkannt habe (vgl. Brăiloiu, Children’s rhythms, 1984, S. 206).161Brăiloiu, Musical folklore, 1984, S. 55.162Vgl G. Firca, 1996, S. 35f.