100Kennzeichen der Volksmusik in Rumänien1.6.1 System des syllabischen GiustoMit dem Begriff »syllabic giusto«163 bezeichnet Constantin Brăiloiu die Kombinati-on einer regelmäßig durchlaufenden Bewegung, gleichförmig wie die Schlagfolge eines Metronoms, mit dem Prinzip der Variabilität der Silben, das aus der unregel-mäßigen Akzentsetzung der Sprache resultiert.164 Bei dieser Kombination entsteht nicht unbedingt eine Folge gleichwertiger Takte. Vergleichbar der Musik der grie-chischen Antike ist der syllabische Giusto ein Prinzip feststehender Längen und Kürzen, so dass es als ein System quantitativer Maßeinheiten bezeichnet werden kann.165 Diese Grundauffassung steht im Gegensatz zur abendländischen Takt-rhythmik, in der vorgegebene Takte ausgefüllt werden. Im System des syllabischen Giusto ist Mehrstimmigkeit mit rhythmisch selbstständigen Stimmen ausgeschlos-sen, da, dem Text folgend, in der Gleichzeitigkeit nur ein Rhythmus möglich ist.Zu Grunde liegt ein bichronales System zweier ungleicher Tonlängen im Ver-hältnis 1:2 und 2:1, meist als Viertel und Achtel notiert. Üblicherweise sind sie als Paare angeordnet, ohne unbedingt Taktschemata gleicher Dauer zu bilden. Der häufigste Liedaufbau ist oktosyllabisch, wobei auch katalektische Varianten mög-lich sind, bei denen der letzte Fuß nicht ausgebildet ist. Neben Verspaaren existie-ren auch ternäre Gruppen. Brăiloius Bestandsaufnahme zeigt die denkbaren Varian-ten: Notenbeispiel 15: C. Brăiloiu: The syllabic giusto, 1984, S. 172.Signifikant für den gesamten Liedaufbau ist also, dass die einzelnen rhythmischen Elementargruppen sich ohne einheitliches Grundmetrum frei zusammenfügen, wo-durch sich ungleichmäßige, asymmetrische Taktformen ergeben:163Brăiloiu, Constantin: The syllabic giusto (Paris, 1948), in: Ders., 1984, S. 168–203.164Vgl. a.a.O., S. 168.165Vgl. G. Firca, 1996, S. 33.