1.8 Merkmale der Melodiebildung in der rumänischen Volksmusik109Neben dem Singen im Unisono ist die daraus hervorgegangene Heterophonie das häufigste Grundprinzip, die Über- und Nebenlagerung der führenden Melodie in verschiedenen Stimmen und Klangfarben, die dabei jedoch variativ verändert und ornamentiert wird. Hier zeigt sich wiederum ein Einfluss aus der arabischen Musik, deren Mehrstimmigkeit G. Firca als Vielfalt der Varianten im Gegensatz zum harmonischen Denken beschreibt.195 Es entstehen erweiterte Facetten dersel-ben Melodie in der Gleichzeitigkeit,196 wodurch die melodische Linie auf diese Wei-se auch Relevanz für die Vertikale erhält: Aus der heterophonen Gleichzeitigkeit entstehen mehrstimmige Ansätze von der bicinienhaften Überlappung vor allem in den antiphon gesungenen Colinde bis hin zur kanonischen Imitation.Im Gegensatz zu der ursprünglich monodischen Musik der Bauern und Hirten verwendet die Tanzmusik der Lăutari der westeuropäischen Musik nahe stehende harmonische Begleitstrukturen und -formeln. Die »Țiitur«, die typische Begleittech-nik von Cymbal und Cobza, wahlweise auch von tiefen Streichern, Akkordeon oder Gitarre übernommen, besteht aus akkordischem Fundament und Wechselbässen: Notenbeispiel 27: Țiitură, in: Oprea, 2001, S. 205, Takte 1–2. Auch hier ist die Terz üblicherweise variabel. Dem Grundton a wird jeweils der Leitton, dem Reperkussionston der Quinte e die übermäßige Quarte vorangestellt, wodurch im Nachhall des Instruments Sekund- und Tritonusschärfen entstehen. Nowka bezeichnet diese Begleitformeln als »die wesentlichsten Merkmale der Folk-lore«197 und weist darauf hin, dass sie »Vorbild für viele ähnliche Harmoniebildun-gen in der rumänischen Kunstmusik geworden«198 seien. 1.8 Merkmale der Melodiebildung in der rumänischen VolksmusikDie volksmusikalischen Gattungen zeigen freie und geschlossene Melodieformen mit unterschiedlich gegliedertem Aufbau. Während Kinderlieder und alte rituelle Gesänge aus ein bis zwei melodischen Linien bestehen, finden sich in den neueren Liedern und der Tanzmusik der Lăutari drei- bis vierteilige Melodien unterschiedli-195Vgl. G. Firca, 1996, S. 36 und 46. 196Vgl. z. B. Notenbeispiel 12.197Nowka, 1998, S. 80.198Ebd.