1.8 Merkmale der Melodiebildung in der rumänischen Volksmusik111Notenbeispiel 29: »Foaie verde«, in: Oprea, 2001, S. 47, Takte 3-4.Charakteristische Schrittfolgen, etwa drei aufeinander folgende große Sekunden wie in der lydischen Färbung, übermäßige Sekunden oder instabile Terzbildung re-sultieren aus der modalen Anlage, aus dem volksmusikalischen Instrumentarium und der byzantinischen Tradition.201 In den diatonischen Skalen der nicht an be-stimmte Anlässe gebundenen Lieder und der Colinda-Melodien überwiegen mixo-lydische, dorische und lydische Tendenzen, während die Balladen und Tänze häu-fig Chromatisierungen aufweisen. Auf die Bedeutung der Intervallfolgen für den tonalen Zusammenhang, die Ver-tikale, wurde bereits hingewiesen. Die Instabilität gewisser Tonstufen, das gleich-wertige Spiel mit großer und kleiner Terz, großer und übermäßiger Sekunde, reiner und übermäßiger Quart lässt oftmals mehrdeutige tonale, meist modale Zuschrei-bungen dieser rein melodisch konzipierten Musik zu. Gerade die Schlusstöne kön-nen variabel gestaltet sein, etwa auf der ersten oder zweiten Stufe über, oder der fünften sowie sechsten Stufe unter der Tonika eines Modus. Typisch sind Kadenz-formeln der phrygischen Kadenz, der fallenden Kleinterz oder der fallenden »Du-delsack-Quarte«.Notenbeispiel 30: »Lumea«, in: Bartók, 1966, S. 43, Takte 5-8. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Editio Musica Budapest Music Publishing Ltd.Kennzeichnend für die Aufführungspraxis ist die reiche Ornamentik. Vorschläge, Verzierungen, das Einfügen von Wechsel- und Durchgangstönen als rhythmisches sowie harmonisches Spannungsmoment, variantenreiche melismatische Dehnung einzelner Töne oder Tongruppen prägen Beispiele aller musikalischen Gattungen und sind teils obligat, teils Ausdruck der eigenen Improvisation und des freien Um-gangs mit dem melodischen Material. Bartók nennt als »eigentümliche und sehr 201Vgl. III.1.7 »Tonale Merkmale in der rumänischen Volksmusik«.