2Entwicklung der rumänischen nationalen Schule2.1 Die rumänische Schule im Kontext der Nationalschulbildung randeuropäischer StaatenDer 16jährige Lipatti gibt seiner Violinsonatine den Untertitel »Die Nationalmusik ist der Schatz im Empfinden eines Volkes«1 und stellt sich damit recht pathetisch in den Kontext einer rumänischen Nationalschule. Der programmatische Titel seiner ein Jahr später komponierten Suite Șătrarii weist ebenfalls in diese Richtung. Nach diesen frühen Jugendwerken kommt es, abgesehen von der subtileren Andeutung im Nocturne (Thème moldave) (1937), erst 10 Jahre später mit den 1944 komponierten Danses Roumaines wieder zu einem explizit als »rumänisch« titulierten Werk. Lipatti ist damit Teil einer sich seit rund einem halben Jahrhundert formieren-den rumänischen Schule, wenn auch diese Bezeichnung eine Homogenität nahelegt, die nicht besteht. Im Folgenden soll deren Entstehungsprozess nachvollzogen wer-den, um die Nationalschule als Fokus für Lipatti und seine Stellung darin deutlich werden zu lassen und später deren konstitutionelle Merkmale in den Werkanalysen musikalisch fassbar zu machen. Der Überblick beschränkt sich auf einige wegwei-sende Musikschaffende, da eine vollständige Darstellung den Rahmen des Kapitels zu weit spannen würde. Die Beispiele lassen erkennen, wie sich Schwerpunkte kompositorischer Einflussgrößen ergeben, die den musikalischen Entwicklungspro-zess in Rumänien nachhaltig prägen. Der Horizont von Lipattis musikalischer Aus-bildung entwickelt sich in dieser direkten Tradition.Die Entwicklung einer musikalischen nationalen Schule verkörpert in Rumänien wie in anderen randeuropäischen Gebieten das kulturelle Streben nach nationaler Identität, ein Vorgang, der sich im Norden, Osten, Südosten und Südwesten Euro-pas sowohl unabhängig voneinander als auch im persönlichen, teilweise freund-schaftlichen Austausch der Komponisten vollzieht. Nationale musikalische Charak-teristika und Ausdrucksweisen verschränken sich mit gesamteuropäischen kompo-sitorischen Tendenzen zunächst der Klassik und Romantik. Bekannte National-schulkomponisten wie Michail Glinka (1804–1857), Bedřich Smetana (1824–1884), Antonín Dvořák (1851–1904), Leoš Janáček (1854–1928), Edvard Grieg (1843–1907), Isaac Albéniz (1860–1909), Jean Sibelius (1865–1957) verbinden ab Mitte des 19. Jahrhunderts die symphonischen, oratorischen und Bühnengattungen der west-europäischen klassisch-romantischen Musik mit einem spezifisch der landeseigenen Volksmusik entnommenen Kolorit zu einer hörbar ihrem nationalen Kulturkreis1»Muzica națională e comoară de simțiri a unui neam«.