2.2 Entstehung des Nationalstaates Rumänien119Grund dieser zeitlichen Raffung der Nationalschulentwicklung zeigen sich romanti-sierende und moderne Tendenzen, normalerweise auf unterschiedliche Generatio-nen verteilt, in Rumänien durchaus im Werk derselben Person. Dieses Spannungs-verhältnis in der Verwendung von Volksmusik zwischen zentraleuropäischer Tradi-tion einerseits und avantgardistisch intendierter Suche nach Erneuerung der musi-kalischen Sprache andererseits spiegelt sich in der stets wertenden Rezeption dieser musikalischen Richtung, die mit dem Begriff »nationale Schule« offensichtlich viel zu pauschal umrissen ist. Dennoch verwende ich im Folgenden den Begriff, da er sich trotz seiner Unzulänglichkeiten als musikhistorische Kategorie durchgesetzt hat und differenziere innerhalb des Gegenstandes der rumänischen Musikentwick-lung. 2.2 Entstehung des Nationalstaates RumänienDie rumänische Nationalschule entwickelt sich im Zuge der Erlangung politischer Souveränität der bislang in Fürstentümer zersplitterten regional- und von Groß-mächten beherrschten Gebiete. Neben dem äußeren Prozess der Staatenbildung vollzieht sich der innere der nationalen Identitätsfindung, in dem kulturell-musika-lische Bestrebungen ihrerseits von funktionaler Bedeutung sind.4 Bei der Betrach-tung der Entstehung der rumänischen Nationalschule fällt auf, dass die ersten Etap-pen ihrer Genese, ablesbar an ihren »Generationen«, zu den Phasen wichtiger politi-scher Einschnitte zeitlich parallel laufen. Dies zeigt ein kurzer geschichtlicher Über-blick über die Daten der Staatsgründung und beider Weltkriege mit ihren Vor- und Nachkriegszeiten, wobei der Abschnitt um den Zweiten Weltkrieg der Generation Lipattis entspricht.5Als sich 1859 die Fürstentümer Moldau und Walachei unter dem moldawischen Bojaren Cuza (1820–1873) vereinigen und 1862 unter dem Namen »România« den Staat Rumänien proklamieren, ist dies der vorläufige Endpunkt jahrhundertelangen Ringens um rumänische Vereinigungsbestrebungen angesichts der Abhängigkeit von zentralen europäischen und osmanischen Herrscherhäusern. Das ursprünglich von thrakischen Geto-Dakern besiedelte Gebiet wird 106 n. Chr. von Trajan erobert und bleibt Teil des römischen Reiches bis 270 n. Chr. Da-durch entsteht die Sonderposition einer romanischen »Insel« innerhalb eines über-wiegend slawischen Sprachraums. Da die am Schwarzen Meer gelegenen Orte wäh-rend der Zeit der griechischen Antike gegründet werden, wie etwa das als griechi-sche Kolonie »Tomis« im 7. Jahrhundert v. Chr. angelegte heutige Constanța, zeigen sich gerade im musikalischen Bereich griechische Einflüsse. Erst im 14. Jahrhundert, nach stetig wechselnden Zugehörigkeiten und Machteinflüssen durch Wandervöl-4Vgl. auch II.1.2 »Bukarest als kultureller Knotenpunkt zwischen Okzident und Orient.«5Die folgende Darstellung fußt maßgeblich auf Schieder, Theodor (Hrsg.): Handbuch der europäi-schen Geschichte, Bd. 5: Europa von der Französischen Revolution zu den nationalstaatlichen Bewe-gungen des 19. Jahrhunderts und Bd. 6: Europa im Zeitalter der Nationalstaaten und europäische Weltpolitik bis zum Ersten Weltkrieg, beide Stuttgart 1968.