2.5 Die erste Generation der rumänischen Nationalschule143Auseinandersetzung um die »Vorherrschaft«113 Deutschlands oder Frankreichs in der europäischen Musikentwicklung. Und entsprechend der umkämpften Positionen um das musikalische Novum bleibt er selbst im politischen Vokabular, wenn er davon spricht, es gebe eine »historische Demarkationslinie von Alt und Neu […] in der Perspektive einer Vorgeschichte der Neuen Musik«.114 Offen bleibt, wie weit die Rezeption von impressionistisch beeinflussten Werken der ersten rumänischen Nationalschulgeneration auch von diesem Kontext mitgeprägt wurde. Direkte impressionistische Einflüsse auf Lipatti lassen sich vermuten: Neben seinem Lehrer Dukas zeigen sich impressionistische Züge des »ständig in Verwandlung begriffenen Fließens«115 etwa in den Liedkompositionen Gabriel Faurés, die auch Vorbilder für Lipattis Mélodies und Chansons gewesen sein werden. Außer Fauré, dem Lehrer von Enescu und Boulanger, werden vor allem Ravel, de Falla, Poulenc oder Honegger mit ihren Kompositionen für Lipatti bedeutsam. Einige Klavierwerke Ravels weisen in Harmonik, kreisend geschlossener Motivik und Klangfarbenorientierung typische Elemente des Impressionismus auf, darunter auch die Miroirs, dessen Alborada del gracioso Lipatti 1948 einspielt.116 Bei de Falla ergibt sich die Nähe zu Lipatti auch über die Zugehörigkeit zu einer nationalen Schule mit der Einbeziehung volksmusikalischer Elemente. Impressionistische Auflösungstendenzen liegen im harmonischen und melodischen Bereich auch in den Klavier- und Violinsonaten Enescus vor. Das Prinzip der Auflösung verdeutlicht Mersmann auch, indem er den Pointillismus aus der Malerei auf das taktweise begrenzte Formungsprinzip Poulencs in den Trois Mouvements Perpétuels überträgt, das durch stereotype sowie in Ornamentik modifizierte Wiederholung des einzelnen Bauglieds zu Stande komme, so dass eine innere Einheit den Kreis um die Einzelerscheinungen schließe.117 Damit nennt er ein Beispiel, an dem die in den folgenden Kapiteln angesprochenen Überschneidungspunkte zu Formungs-prinzipien, die sich auch aus der rumänischen Volksmusik ergeben können, deutlich werden. Als Grenzgänger der Auflösungstendenzen in der neueren Musikentwicklung wird schließlich Artur Schnabel genannt,118 ein weiterer Musiker, mit dem Lipatti befreundet ist. Ob es zur Erarbeitung seiner Werke durch Lipatti kommt, bleibt jedoch unklar.2.5.1.2.2.2 Ambivalenz der impressionistischen Stilelemente – französischer Ein- fluss oder Herkunft aus der rumänischen Volksmusik?Die Rezeption des Impressionismus durch die rumänischen Komponisten stellt für C. Firca ein weiteres Paradigma in Bezug auf das »modèle français« in der113Kabisch, 1996, Sp. 533.114A.a.O., Sp. 533f.115A.a.O., Sp. 530.116Vgl. CD EMI CDH 7 63038 2.117Vgl. Mersmann, 1928, S. 154. und IV.2.3.1 »Nocturne (en fa# mineur)«.118Vgl. a.a.O., S. 150.