2.6 Die zweite Generation der rumänischen Nationalschule155in Deutschland und Westeuropa sich nahtlos an sein Studium an der Berliner Mu-sikhochschule (1939–45) anschließt. Der in der westeuropäischen Rezeption stets als grenzüberschreitend hervorge-hobene Lebenslauf Dinu Lipattis fügt sich also wie selbstverständlich in den Kon-text zeitgenössischer rumänischer Musikerbiografien. Die nach wie vor retardierte Orientierung an westeuropäischen Richtungen, ab-lesbar an einer späteren Loslösung von romantischen Ausdrucksidealen oder an der Tatsache der erst am 27.12.1914 unter Enescus Leitung stattfindenden rumänischen Erstaufführung von Beethovens neunter Sinfonie, erfolgt nun gleichzeitig mit der Hinwendung zur Moderne. Musiker schließen sich der westeuropäischen und ru-mänischen Avantgarde an, und zeitgenössische Komponisten wie Strawinsky und Bartók stellen ihre Werke in Bukarest vor. 1924 führen Bartók, zu dieser Zeit koope-rierendes Mitglied der »Societatea compozitorilor români«, und Enescu Bartóks zweite Violinsonate auf, im Programm mit anderen Werke Bartóks und Brăiloius. 1925 wird Strawinskys L’oiseau de feu in der Bukarester Philharmonie aufgeführt, und Strawinsky selbst dirigiert am 16.02.1930 im Rahmen der Fundația culturală »Regele Mihai I« in Bukarest seine Symphonie in Es op. 1, Feu d’artifice, Scherzo fantas-tique op. 3 und drei Sätze aus Petruschka.183 1928 wird unter Hermann Scherchen L’histoire du soldat aufgeführt, weitere Beispiele sind 1926 Pacific 231 von Arthur Ho-negger und in den 30er Jahren Konzerte von Prokofjew, Ravel und wiederum Stra-winsky mit ihren Werken. Die Entwicklung der Nationalschule in den 30er Jahren ist nachhaltig von diesen Vorbildern einer osteuropäischen Moderne geprägt und entwickelt sich in diesem Sinne zielstrebig weiter im Bemühen um eine nationale Musik mit universeller Aus-druckskraft als Teil der gesamteuropäischen Moderne. Innerhalb dieser komposito-rischen Impulse vollzieht sich die Ausprägung neuer Satztechniken, Formen und ei-ner melodischen Expressivität, deren Herkunft nicht mehr direkt volksmusikalisch oder klassisch greifbar ist. Unter dem Einfluss zeitgenössischer ästhetischer Strö-mungen entwickeln »Gattungen […] ihre endgültige Form«,184 das Ballet durch Jo-ras Piața, die Oper durch Năpasta von Drăgoi und OEdipe von Enescu, die symphoni-sche Dichtung und Programmmusik durch Werke von Enescu, Constantinescu, Ro-galski, Jora, Lazăr, Mihalovici, Otescu und Negrea, und die Kammermusik »mit ih-rem Hauptwerk, der 3. Sonate für Klavier und Violine, op. 25, von Enescu«.185 Interessanterweise definiert Enescu entgegen der in Kapitel III.2.3 beschriebenen Nationalschulgründung von 1920/21 die rumänische Schule erst ab 1934 und spricht für die Zeit vorher von der Repräsentanz rumänischer Musiker, »denn von einer Schule können wir noch nicht sprechen«.186 Damit verortet er das Entstehen einer nationalen Schule also im Wirken dieser zweiten Generation – ein weiterer Hinweis183Vgl Abdruck des Konzertplakats in C. Firca, 1994, S. 58. 184Cosma, 1982, S. 159.185Ebd.186Enescu, George: Interviuri, vol. I, Bukarest 1988, p. 153, hrsg. von Laura Manolache; »fiindcă de şcoală nu putem vorbi încă«.