156Entwicklung der rumänischen nationalen Schuleauf den neuen Abschnitt, den diese in Bezug auf die Konsolidierung eines National-stils bedeutet. Lipattis Wirken innerhalb dieser Generation lässt sich schlüssig nachvollziehen: Nicht nur in seiner Haupttätigkeit als Pianist trägt er maßgeblich zur Rezeption der Werke rumänischer Komponisten bei – vor der Zeit seiner internationalen Konzert-reisen etwa schon in Paris bei der Weltausstellung 1937, bei der ihm Konzerte mit Werken von Nottara, Klepper, Negrea, Lazăr und Constantinescu übertragen wer-den187 – sondern auch kompositorisch: So steht die symphonische Suite Șătrarii ebenfalls auf dem Programm der rumänischen Präsentation bei der Weltausstellung und wird einige Jahre später von Enescu in den USA aufgeführt. Lipatti und Con-stantin Silvestri (1913–1969), letzterer ausschließlich in Rumänien ausgebildet und ebenfalls Schüler von Musicescu, gelten als die beiden aufstrebenden Talente der rumänischen Schule. Zeno Vancea konstatiert, Lipatti sei nach einigen ersten klassi-schen und romantischen Kompositionsversuchen »von Jora auf den Weg des Natio-nalstils gebracht worden«.188 Im Unterschied zu der Mehrzahl von Joras Schülern habe Lipatti sich jedoch nicht in erster Linie auf das »populäre Fundament«189 ge-stützt, sondern gleichermaßen auf expressive Ausdrucksmittel aus Neoklassizismus und Impressionismus. Diese Stilsynthese Lipattis zu analysieren, systematisch ein-zuordnen und auch zu hinterfragen wird Aufgabe der Analysen in Kapitel IV sein. 2.6.1 Erneuerung der Musiksprache durch die rumänische VolksmusikDie Erneuerung der Musiksprache vollzieht sich, wie schon in der ersten Generati-on, im Spannungsfeld zwischen einer Neubewertung der eigenen rumänischen Mu-sikquellen und den westeuropäischen avantgardistischen Strömungen. Nach der um die Jahrhundertwende typischen direkten Anleihen an Volksmusik-, bzw. volkstümlichem Material und der nachfolgend im »Stil barbaro« gesuchten Distanz erhöht sich in der zweiten Generation der Nationschulkomponisten die Konzentra-tion auf die ursprüngliche Volksmusik aus dem bäuerlichen Umkreis. Ein intellek-tueller ästhetischer Blick auf die Tradition führe nun weg von der städtischen Folk-lore, so Clemansa Firca, hin zur Faszination an der Einfachheit von Volksmelodien aus dem Brauchtum der Bauern und Hirten, die ihre Attraktivität in Bezug auf die Moderne bewiesen durch ihre tonale Offenheit mit bi- und polytonalen Strukturen, rhythmischen und artikulationstechnischen Besonderheiten, wodurch sich dieses musikalische Material auch von der westeuropäischen Moderne absetze.190 So führt C. Firca die polytonale Anlage von Lipattis Kompositionen gerade auch als Zeichen einer neuen rumänischen Nationalstilistik an, die zu einem typischen Kennzeichen dieser Generation werde.191 187Vgl. Bărgăuanu / Tănăsescu, 1991, S. 56.188Vancea, 1978, S. 274; »fiind îndrumat de Mihail Jora către stilul național (pe care se pare că și l-a în-sușit mai mult din creația cultă a adepților școlii naționale decît din folclor)«.189Ebd. 190Vgl. C. Firca, 1994, S. 57 und 61f.191Vgl. C. Firca, 2002, S. 154.