2.6 Die zweite Generation der rumänischen Nationalschule157Der Reichtum der Bauernmusik sei auch daran ablesbar, dass ein Vierteljahrhun-dert später etwa »the commentators of bartóks music discovered the proportions of the golden section both in the micro-structure – melody, rhythm, mode, harmony – and the macro-structure – the architecture – of his works.«192 In gleichem Maße setze zu dieser Zeit eine konstruktivistische Neubewertung von Klassizismus und Barock in Weiterentwicklung des oben geschilderten Neo-klassizismus ein, die sich mit der Verarbeitung volksmusikalischer Kennzeichen überlagere: »The resulting neobaroque is far from being a passive ›retro‹ mode,since its rigorous architectural patterns are matched with a musical syntax […]alienated by polytonality, an extreme chromatising and the non-restrictive regime of dissonances.«193 Als Beispiele nennt C. Firca Sonatina a 2 voci per clarinetto e vio-loncello (fagotto) (1938) und Preludiu şi Fuge (Toccata) pentru orchestră (1955) von Silve-stri, Preludiu şi Invenţiune (1937) und Toccata pentru pian şi orchestră (1938) von Miha-lovici und das Concert de cameră pentru şapte instrumente (1937) von Socor.194 Der neoklassizistische Schwerpunkt in Lipattis Werk wird ein Hauptbestandteil der nachfolgenden Werkanalysen sein. Weitere für Lipattis Werk relevante Verarbei-tungsweisen volksmusikalischer Materialien, die die kompositorische Öffnung zur Moderne zeigen, werden im Folgenden vorgestellt. 2.6.1.1 Stufen der Verarbeitung von Volksmusik Zur Analyse des produktiven Umgangs mit Volksmusik ist die SystematisierungSzabolcsis in Bezug auf die Werke Bartóks,195 die ja auch in großem Maß auf der ru-mänischen Bauernmusik fußen, hilfreich. Szabolcsi unterscheidet sechs Stufen des Umgangs mit volksmusikalischen Materialien bei Komponisten nationaler Schulen. Die erste und zweite Stufe, die »einfache Volksliedtranskription«,196 in der das »›Originalexemplar‹«197 ohne Veränderung in einen stilgemäßen Rahmen gefasst wird, und die Form der leicht erweiterten »einfachen Volkliedbearbeitung«,198 sind innerhalb der ersten Generation und der Wegbereiter der rumänischen Schule anzu-treffen. Hingegen trifft die dritte Stufe der »komplizierten Volkslied-bearbeitung«,199 in der das Volkslied bereits als Rohmaterial verstanden und eigen-ständig ergänzt wird, auf einige Werke der zweiten Nationalschulgeneration zu, u. a. auf Lipattis Nocturne (Thème moldave)200 und sein Allegro für Violine bzw. Flöte:192C. Firca, 1994, S. 65.193A.a.O., S. 66.194Vgl. ebd.195Lipatti äußert sehr große Bewunderung für die Kompositionen Bartóks (vgl. II.4.4), in seinem Parti-turbestand nehmen die Werke Bartóks einen großen Raum ein, vgl. Inventaire de la Bibliothèque des Partitions de Musiques et des Disques de Dinu Lipatti, Conservatoire Genève. 196Szabolcsi, Bence: Bartók und die Volksmusik, in: Bartók, Béla: Weg und Werk. Schriften und Briefe, hrsg. von B. Szabolcsi, Kassel 1972. S. 96.197Ebd.198Ebd.199Ebd.200Vgl. IV.2.2.1 »Nocturne (Thème moldave)«.