158Entwicklung der rumänischen nationalen Schule»Die Bauernmelodie spielt nur die Rolle des Mottos […]. Immer ist es aber sehr wichtig, daß das Musikgewand, in welches wir die Melodie kleiden, sich vom Charakter der Melodie […] ableiten läßt, bzw. daß die Melodie und alles Hinzugefügte den Eindruck einer untrennbaren Einheit erwecken.«201Ein stärker abstrahierender Umgang zeigt sich in den folgenden drei von Szabolcsi beschriebenen Stufen, zunächst die »freie Verwendung der rhythmischen und der melodischen Elemente der Volksmusik«,202 die auch in Lipattis Werk durchgehend anzutreffen ist. Es folgt die davon kaum mehr scharf zu trennende »individuelle In-vention«203 im nationalen Stil, die Herausbildung eines eigenen Vokabulars in der Kompositionsweise der volksmusikalischen Ausdrucksmittel, und schließlich der »im Geiste der Volksmusik zum Ausdruck gebrachte persönliche Gedanke«,204 be-ruhend auf dem Volkslied als »geistiges Musterbild«.205 Für die rumänischen Komponisten der zweiten Generation steht ebenso die Nachbildung wie die Abstrahierung von der konkreten volksmusikhaften Gestalt im Vordergrund. Einen Beleg für die fortgeschrittenen Stufen der kompositorischen Beziehung zur Volksmusik liefert eine Äußerung von Mihalovici: »Ich habe niemals Folklore zitiert mit Ausnahme eines einzigen Falles in der Oboensonatine, wo ein Teil des finalen Rondothemas von einem popularru-mänischen Lied ausgeht. Ich habe mir immer Folklore ausgedacht. Das, was in meiner Musik Folklore zu sein scheint, ist, wie Bartók sagt, ›imaginäre Folklo-re‹. Oder, wie Enescu sagt, ›im rumänischen Volkscharakter‹.«206 In diesem Zusammenhang spricht Mihalovici auch von »Inflexionen«,207 die dem rumänischen Lied entstammten, ohne dass er »românească«208 habe schreiben wol-len. Damit nutzt er einen Begriff, der sich in der rumänischen Literatur zur Kenn-zeichnung des subtilen volksmusikalischen Bezugs immer wieder findet. So spricht auch G. Firca von der »melodischen Inflexion«209 in der Modalharmonik. 201Bartók, Vom Einfluß der Bauernmusik auf die Musik unserer Zeit, 1972, S. 169f.202Szabolcsi, 1972, S. 96.203A.a.O., S. 97.204Ebd.205Ebd.206Mihalovici 1990, S. 29; »N-am citat niciodată folclorul cu excepția unui singur caz în Sonatina de oboi, unde o parte a temei rondoului final pleacă de la un cîntec popular românesc. Eu mi-am inventat în-totdeauna folclorul. Ceea ce pare să fie folclor în muzica mea este, cum spunea Bartók, ›folclor imagi-nar‹. Sau, cum spunea Enescu, ›în caracter popular românesc‹«. Das Zitat Enescus ist der Untertitel seiner Violinsonate Nr. 3 op. 25.207A.a.O., S. 30; »inflexiuni«.208Ebd.209Firca, Gheorghe: Criterii de stabilire a unei tipologii în armonia modală, in: Studii de muzicologie, vol. 8, Bukarest 1972, S. 173–192, zitiert nach der vom Autor zur Verfügung gestellten deutschen Übersetzung »Kriterien für die Festlegung einer Typologie in der modalen Harmonik«, S. 15.