2.6 Die zweite Generation der rumänischen Nationalschule1592.6.1.2 Modelle einer diatonisch-chromatischen VerschränkungIn Bartóks Werken zeigen sich Verfahren der Abkehr vom Dur-Moll-tonalen Sys-tem, die zum gleichberechtigten Einsatz aller zwölf Töne führen. Die Begriffe von Tonalität und Atonalität stehen sich in seiner Auffassung jedoch offenbar nicht un-vereinbar gegenüber, sondern verweisen auf Stufen einer nachvollziehbaren Ent-wicklung, denn er schreibt: »Dennoch scheint es nicht richtig zu sein, wenn das tonale Prinzip als absolu-ter Gegensatz des atonalen Prinzips aufgefaßt wird. Das letztere ist vielmehr die Konsequenz einer allmählich aus dem Tonalen entstandenen Entwicklung, welche durchaus graduell vor sich geht und keinerlei Lücken oder gewaltsa-me Sprünge aufweist.«210 Bartók geht es also um ein organisches Grundprinzip der Überwindung der tonalen Bindung der einzelnen Töne hin zur Gleichwertigkeit, doch nicht zur Beziehungslosigkeit aller zwölf Tonstufen aus sich selbst heraus. Der ungarische Musikwissenschaftler Ernö Lendvai beschreibt diesen Weg anhand des Modells ei-nes Achsensystems: Ausgehend vom Quintenzirkel mit c als Tonika wie von den gewohnten Subdominant- und Dominantstufen und der entsprechenden Zuordnung der Parallelstufen liege der »Schlüssel zum Bartókschen Tonsystem«211 in dem Weiterdenken dieser Stufen in Quintschritten und dem Beziehen aller zwölf Töne auf die Stufenfolge T D S: Abbildung 1: Hinführung zum diatonisch-chromatischen Achsensystem, in: Lendvai, 1972, S. 106.210Bartók, Béla: Das Problem der neuen Musik (1920), in: Ders., Eigene Schriften und Erinnerungen der Freunde, hrsg. von Willi Reich, Basel / Stuttgart 1958, S. 23.211Lendvai, Ernö : Einführung in die Formen- und Harmonienwelt Bartóks, in : Szabolcsi, 1972, S. 105.