2.6 Die zweite Generation der rumänischen Nationalschule161Rhythmus aus dem Mikrokosmos und der Klaviersonate in Lipattis Repertoire fin-den. Aus dem Gesetz der Proportionsbildung mittels »Goldenen Schnitts« leitet Lendvai auch die Chromatik Bartóks ab, indem er die Zahlen der Fibonaccischen Reihe als Halbtonschritte rechnet. So bedeute »die Zahl 2 eine große Sekunde, die 3 eine kleine Terz, die 5 eine Quarte, die 8 eine kleine Sexte […]. Die 8 z. B. kann nur im Verhältnis 5+3 auseinanderfallen, eine Spaltungsmöglichkeit nach 4+4 oder 7+1 ist im System ausgeschlossen.«221 Aus der Analyse einer Vielzahl von Stücken ge-langt Lendvai schließlich zu der Schlussfolgerung, dass ein typischer Bartók-Ak-kord im chromatischen Satz unter dem Grundton eine Durterz und über dem Grundton eine Mollterz aufweise und damit auf den Intervallen der Proportionen3 - 5 - 8 fuße, bezogen auf c’ also e-g-c’-es’.Im Gegensatz zu diesen Grundlagen der Chromatik führt Lendvai als Grund-pfeiler für die Diatonik Bartóks die »akustische Tonreihe […], akustisch genannt, weil ihre Töne der natürlichen Obertonreihe entstammen«,222 an, auf c gebildet zählt er dazu c-d-e-fis-g-a-b-c.223 Diese lydisch-mixolydische Skala findet auffälligerweise auch häufige Verwendung in der Musik rumänischer Komponisten, entlehnt der ru-mänischen Volksmusik und dem Tonvorrat einfacher Blasinstrumente der Bauern und Hirten wie etwa der »Maramureser Sackpfeife«.224 Das vorgestellte System wird von Lendvai nicht aus der Bauernmusik abgeleitet, doch lässt sich diese schlüssig integrieren, wie er am Beispiel des Hauptthemas des zweiten Satzes der Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta anführt, das sich an der Stufenfolge des ungarischen Volkliedes neuen Typs orientiere.225 Letzt-endlich gelangt Bartók auch über die Konzentration auf die Bauernmusik mit ihren nicht Dur-Moll-tonalen Zusammenhängen dahin, »die zwölf Töne nicht nach gewis-sen Skalensystemen zu ordnen […], sondern die einzelnen Töne in jeder beliebigen, nicht auf Skalensysteme zurückführbaren sowohl horizontalen als auch vertikalen Zusammenstellung zu gebrauchen«.226 Die Chromatik wird also nicht mehr als Al-teration eines Stammtons verstanden, sondern beinhaltet die Gleichwertigkeit und Austauschbarkeit eines jeden Tones als funktional bedeutsam; die »systematische Verbindung der Chromatik und der Diatonik«227 sei folglich »kein Neubeginnen, sondern Zusammenfassung und Erfüllung. Hier muß auch die Grenze gezogen werden zwischen dem Bartókschen Zwölfstufensystem und der Schönbergschen Zwölftonmusik«,228 die die Tonalität gänzlich auflöse, wohingegen Bartók sie durch stete Erweiterung überwinde und weiterentwickle. 221A.a.O., S. 123.222A.a.O., S. 137.223Vgl. ebd.224Vgl. III.1.5.1 »Dansul«, auch III.1.7 »Tonale Merkmale in der rumänischen Volksmusik« und IV.2.2.3 »Danses Roumaines«.225Vgl. Lendvai, 1972, S. 113. 226Bartók, Das Problem der neuen Musik, 1958, S. 24f.227Lendvai, 1972, S. 138.228A.a.O., S. 117.