162Entwicklung der rumänischen nationalen SchuleDieses sicherlich sehr starre Schema ist für die Analyse osteuropäischer Musik deswegen hilfreich, weil es dem westlichen funktionsharmonischen Denken die komplementäre Verbindung von Diatonik und Chromatik als eine Emanzipation der Chromatik, die ja beispielsweise auch eine andere als die der klangfarbenorien-tierten Chromatik im Impressionismus ist, in Verbindung mit diatonischem Grund-denken entgegenstellt. Interessanterweise liefert der Ansatz auch eine Begründung für Charakteristika, die sich etwa in Enescus Kompositionen finden, den aus den changierenden Skalen der rumänischen Volksmusik abgeleiteten mobilen Stufen, vor allem die fluktuierende Terz,229 die also auch Kern des oben erläuterten »Bar-tók-Akkordes« ist. Auch im Werk Lipattis sind mobile Terzen230 ebenso evident wie signifikante Tritonusbeziehungen231 und die Verwendung der von Lendvai so be-zeichneten »akustischen Reihe«, der lydischen Skala ohne Leitton mit kleiner Septi-me.232 Das dargestellte Modell umreißt nicht zuletzt das Spannungsfeld von Tonalität und Bi-, Poly- oder Atonalität, auch wenn diese Begriffe durchaus unterschiedlich definiert werden. Auch Darius Milhaud nutzt in seinem 1923 erschienenen Aufsatz »Polytonalité et Atonalité« zu deren Abgrenzung die Kategorien von Diatonik und Chromatik: »Il existe entre la polytonalité et l’atonalité les mêmes différences essentielles qu’entre le diatonisme et le chromatisme. Le diatonisme implique la croyance en l’accord parfait (composé de sa fondamentale, de sa tierce majeure ou mi-neure, et de sa quinte) comme en une réalité fixe reposant sur une gamme ma-jeure ou mineure que le musicien utilisera dans la composition de ses thèmes.«233 Während das diatonische Gefüge die Grundlage für Polytonalität bilde, läge der Ausgangspunkt für Atonalität in der Chromatik begründet: »Si le diatonisme implique la croyance en l’accord parfait, le chromatisme sera basé sur celui de septième dominante, […] considéré comme un accord de mouvement, […] perpétuelle transition qui impliquera toujours l’idée de réso-lution […]. Si l’on considère un accord comme un mouvement en marche vers un autre accord dont il sera la dominante, lequel serait à son tour la domi-229Vgl. III.3.1.2 »George Enescu als Wegweiser und Maßstab für die rumänische Musikentwicklung«.230Vgl. z. B. IV.2.4.1 »Fantaisie pour violon, violoncelle et piano«.231Vgl. z. B. IV.2.3.2 »Concerto pour orgue et piano«.232Vgl. z. B. IV.2.2.3 »Danses Roumaines«.233Milhaud, Darius: Polytonalité et Atonalité, in: La revue musicale, Paris, Nr. 4 / 1923, S. 29; »Es gibt zwischen Polytonalität und Atonalität die gleichen wesentlichen Unterschiede wie zwischen Diato-nik und Chromatik. Die Diatonik beinhaltet den Glauben an den vollkommenen Akkord (aufgebaut aus seinem Grundton, seiner großen oder kleinen Terz und seiner Quinte) als eine feste Größe, beru-hend auf einer Dur- oder Molltonleiter, aus der der Musiker bei der Komposition seine Themen schöpft.«