168Entwicklung der rumänischen nationalen Schule(1876–1933),266 die rumänisch-französische Dichterin Marthe Bibesco (1889–1973) oder die »Société Schubert«, in der auch Lipatti auftritt. Musikalisch maßgebend sind für die zweite Generation der rumänischen Natio-nalschule nach wie vor Kompositionen des Neoklassizismus und der teilweise pro-vozierenden und parodierenden Musiksprache der »Groupe des Six«, Produktionen der von Diaghilew begründeten »Ballets russes«, in denen Künstler der Avantgarde wie Picasso, Cocteau, Strawinsky oder Prokofjew zusammengebracht werden, und auch Einflüsse aus Jazz und Unterhaltungsmusik. In der französischen Moderne be-stehen jedoch auch gegenläufige Bestrebungen, etwa die 1936 von Olivier Messiaen (1908–1992), André Jolivet (1905–1974), Daniel-Lesur (1908–2002) und Yves Bau-drier (1906–1988) gegründete Gruppe »Jeune France«, die in Reaktion auf die Ab-straktion in der Moderne eine »réhumanisation« der Musik u. a. durch die Veranke-rung in Religion und metaphysischem Denken anstrebt.267 Die Integration der rumänischen Komponisten in Paris zwischen den beiden Weltkriegen vollzieht sich zunehmend in wechselseitiger Einflussnahme. Französi-sche Strömungen wirken auf die rumänische Musik ein und umgekehrt besteht ein Interesse an der rumänischen Musik als kosmopolitischer, »exotischer« Anregung. Eine neue Generation rumänischer Künstler lässt sich zum Teil dauerhaft in Paris nieder oder sie zeigt durch zeitweise parallele Wohnsitze, wie etwa Enescu, Lazăr, Mihalovici und auch Lipatti, dass es ihnen weder ausschließlich um Assimilation noch um die bloße Suche nach Anregungen für die Fortentwicklung der rumäni-schen Musik geht, sondern dass sich eine doppelte künstlerische Identität herausbil-det, die auch eine Relativierung des nationalen Blickwinkels bedeutet. Der national orientierte Kontext verschränkt sich mit der aktiven Teilnahme an den zeitgenössi-schen französischen Strömungen, etwa auch der Avantgarde in Literatur und bil-denden Künsten durch Tristan Tzara oder Constantin Brâncuşi. Der künstlerische Austausch mit anderen ausländischen Komponisten erhält große Bedeutung. Zwar stellt Mihalovici fest: »Wir, die Ausländer, die in Paris leb-ten, […] hatten weder eine gemeinsame Sprache noch Ästhetik.«268 Dennoch entwi-ckelt sich 1928 zwischen den vier Komponisten unterschiedlicher Nationalität, Con-rad Beck (1901–1989), Tibor Harsányi (1898–1954), Bohuslav Martinů (1890–1959) und Mihalovici, später noch Alexandr Tscherepnin (1899–1981), die Idee gemeinsa-mer Konzertveranstaltungen im Theatre »Le Vieux Colombier«, um sich der Öffent-lichkeit vorzustellen. Von der Kritik erhalten sie zunächst das Etikett »Groupe des Quatre« und nach der Erweiterung »École de Paris«.269 Mihalovici betont jedoch, dass es sich bei diesem Zusammenschluss nur um ausländische Musiker handelt: »Im Unterschied zu der École de Paris der bildenden Künste, in der französische und ausländische Künstler vom Montparnasse vereint waren, bestanden wir 266Gebürtig Anne Elisabeth Brâncovean.267Vgl. Stuckenschmidt, 1974, S. 218ff.268Mihalovici 1990, S. 28f; »noi, străinii trăind la Paris, […] noi nu aveam un limbaj comun nici o estetică comună.«269A.a.O., S. 15f.