3.1 Vertreter der nationalen Schule179der Volksmusik der Bauern und Hirten als wesentliche Grundlage für seine Musik-sprache. Bedeutsam werden das der Doina entstammende parlando-rubato-Zeit-maß, das Prinzip der kontinuierlichen Variation, weshalb der rumänische Kompo-nist und Musikwissenschaftler Pascal Bentoiu in Bezug auf die unablässig sich ver-ändernden melodischen Linien den Begriff »Schwebemelos«29 verwendet, mobile, unablässig fluktuierende Tonstufen, die eine »souveräne Freiheit der ›modalen Mo-dulation‹«30 begründeten, einzelne typische melodische Wendungen und Instru-mentalfärbungen vor allem der Hirtenmusik und heterophone Stimmführungen,31 die Enescu zu einem eigenen Verfahren des »Zerfaserns« von Melodiebögen, etwa durch Tempovarianten innerhalb derselben Melodiebögen, entwickelt. Bentoiu be-tont Enescus Position zwischen den musikalisch sehr unterschiedlichen, sogar kon-trären Ausgangspunkten der Musik des Ostens und des Westens:»Enescus Denkart knüpft […] an eine orientalische Weltauffassung an (d. h. in diesem Fall, ein griechisch-byzantinisches, möglicherweise thrakisches Uni-versum). Für den Künstler Enescu kann die Zeit aufgehoben werden, einen veränderlichen Wert erhalten oder auch umkehrbar werden. Die als Kategorie verstandene Kausalität ist nicht obligatorisch: Das Abwarten, die Kontemplati-on oder die Träumerei können jederzeit an ihre Stelle treten. Daher werden Be-wertungskriterien der modernen europäischen Musik im Falle Enescus in vol-lem Umfang kaum greifen.«32C. Firca beschreibt Enescus Sonderposition bei gleichzeitiger Zugehörigkeit zur na-tionalen Schule mit der Kennzeichnung seines Stils als »prägnant-nationale Indivi-dualisierung – doch völlig unprovinziell«,33 als »Assimilation bei gleichzeitig reger Transfiguration traditioneller Elemente oder der zeitgenössischen okzidentalen Mu-sik.«34Dieter Nowka sieht vor allem in der Verwendung leittonloser Chromatik Paral-lelen zu Bartók und Liszt, kompositorische Ansätze, die auch in Lipattis Werk als Vorliebe für chromatische Verarbeitungformen erkennbar werden, und spricht da-mit auch für Lipatti bedeutsame Kompositionsverfahren an:»Die bei vielen – namentlich osteuropäischen – Komponisten anzutreffende Kombination von Chromatik und Diatonik, die andere harmonische Ergebnis-se zeitigte als die totale Chromatik aller Stimmen, war bei Enescu ein Versuch, auf diese Weise die diatonische und mittels mobiler Stufen chromatisierte 29Bentoiu, Pascal: Enescu, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik (MGG), hrsg. von Friedrich Blume, zweite, neubearbeitete Ausgabe hrsg. von Ludwig Fin-scher, Personenteil, Bd. 6, Kassel / Stuttgart 2001, Sp. 333.30A.a.O., Sp. 332.31Zu den genannten Prinzipien vgl. III.1 »Kennzeichen der Volksmusik in Rumänien«. 32Bentoiu, 2001, Sp. 333.33C. Firca, 2002, S. 110; »individualizare națională pregnantă – totuși neprovincială«.34Ebd.; »asimilare și totodată intensă transfigurare a elementelor aparținând tradiției sau prezentului muzicii occidentale.«