180Direkte Einflüsse auf Lipattimonodische rumänische Volksmusik in ein neu zu schaffendes Akkordsystem einzubeziehen.« 35 An dieser Stelle kann kein Überblick über das Gesamtwerk Enescus gegeben wer-den; es werden lediglich die Werke genannt, mit denen sich Lipatti als Interpret auseinandersetzt, um mögliche Einflüsse auf ihn als Interpreten und Komponisten deutlich werden zu lassen. Das früheste Werk, dem Lipatti sich zuwendet, ist die zweite Klaviersuite op. 10 (1903). Sie stellt einen eindrücklichen kompositorischen Übergang dar vom imitie-renden und historisierenden neobarocken Stil der ersten Klaviersuite hin zu einem individuellen Verfahren des impressionistischen und von improvisatorischem Den-ken beeinflussten Auflösens der exponierten klaren Linien und Themen.36 Diesen kompositorischen Prozess bezeichnet Nowka für die viel später entstan-dene erste Klaviersonate op. 24/1 (1924) als »Aufhebung des Widerspruchs zwi-schen strenger motivisch-thematischer Arbeit und freiem rhapsodischen Denken«.37 Erwähnenswert ist, dass die während Enescus Arbeit an seiner einzigen Oper OEdipe entstandene Klaviersonate das Schicksalsthema des Titelhelden der Oper verarbei-tet. Über die Einspielung der dritten Klaviersonate in D-Dur op. 25 (1935) durch Li-patti äußert sich Lipattis Schüler Alain Naudé enthusiastisch, wobei zugleich das ty-pische Befremden westeuropäischer Pianisten gegenüber der Musik Enescus an-klingt:»C’est la musique de son pays, de son âme. Un pianiste non initié à cet idiome ne comprendrait rien à ce texte chargé d’insinuations et d’agréments fantas-magoriques. C’est vraiment un texte écrit en chiffres, ce qui donne une signifi-cation nouvelle au mot déchiffrage! Lipatti fait de cette sonate la merveille qui mettrait Enesco au premier rang des compositeurs de son temps même s’il n’avait rien écrit d’autre. Il n’y a simplement pas de mots pour décrire la pres-tidigitation envoûtante de ce disque.«38 Mit Enescu gemeinsam spielt Lipatti wiederholt dessen zweite und dritte Violinso-nate. Die zweite Violinsonate op. 6, von Enescu mit 16 Jahren komponiert, zeigt in seiner Anlage durchaus Parallelen zu Lipattis eigener, im gleichen Alter geschrie-ben Violinsonatine. Die in Enescus Violinsonate bemerkenswerte harmonische Of-35Nowka, 1998, S. 41.36Es existiert eine Einspielung, in der Enescu die ersten beiden Sätze und Lipatti den Schlusssatz spielt: Electrecord Romania, EDC 30 / 431.37Nowka, 1998, S. 56.38Naudé, 2000, S. 54; »Das ist die Musik seines Landes, seiner Seele. Ein in dieses Idiom nicht einge-weihter Pianist verstünde nichts von diesem Text voller Anspielungen und fantasmagorischer Reize. Das ist wirklich ein in Chiffren geschriebener Text, was dem Wort Dechiffrierung eine neue Bedeu-tung verleiht! Lipatti macht aus dieser Sonate das Wunderwerk, das Enesco in den ersten Rang der Komponisten seiner Zeit erheben würde, auch wenn er nichts anderes geschrieben hätte. Es gibt ein-fach keine Worte, um die überwältigende Zauberkunst dieser Aufnahme zu beschreiben.« Die Ein-spielung befindet sich auf der CD EMI CDH 7 63038 2.