3.1 Vertreter der nationalen Schule181fenheit, den romantisch-funktionsharmonischen Rahmen sprengend, da die Leiter-töne durch mobile, fluktuierende Stufen variabel gehalten sind und dem harmoni-schen Lauf überraschend eine neue Richtung geben, findet sich bei Lipatti andeu-tungsweise in Nutzung bitonaler Anordnungen und chromatisierter Modi. Weitere Elemente, die beide Komponisten der rumänischen Volksmusik entnehmen, sind asymmetrische oder agogisch freiere Rhythmen, Unisono-Melodieführungen und spezifische Artikulationsformen der Violine.39 Enescus 1926 entstandene dritte Violinsonate op. 25 gilt als das Hauptwerk der rumänischen Kammermusik im 20. Jahrhundert, wegweisend dadurch, dass es die Volksmusik nutzt, »ohne sich in die Abhängigkeit vom Motiv zu begeben«,40 was das Werk entscheidend von Enescus Ausgangspunkt der Verarbeitung von Volks-musik, den beiden Rhapsodien op. 11, abgrenzt. Prägend ist eine wie in der ersten Klaviersonate und der Oper OEdipe gegenwärtige, motivische Kernzelle,41 die »in permanenter Variation eine unaufhörliche Metamorphose von melodischen Ele-menten, die auf modalen Skalen beruhen,«42 entstehen lässt. Hier zeigen sich auch Ansätze von Enescus Ausprägung heterophoner Arbeitsweise, der quasi-improvisa-torischen, in der Variierung nicht an harmonischen und konsonanten Vorstellungen gebundenen Begleitung einer Melodie mit sich selbst, die er entwickelt, um »die Unvereinbarkeit seines primär melodischen Denkens in freier parlando-rubato-Me-trik mit den klassischen Regeln der Polyphonie aufzuheben«.43 Enescus Impressions d’enfance op. 28 (1940) für Violine und Klavier sind eng mit Lipatti als Interpreten verknüpft: Nach der Uraufführung am 22.02.1942 durch Enescu und Lipatti hält Enescu seine Ergriffenheit über die interpretatorische Über-einstimmung beider Musiker durch die spontane Widmung der Partitur fest: »Für Dinu Lipatti, den Paten dieses Werkes, in unendlicher Dankbarkeit und tiefer Be-wunderung.«44 Kompositorisch greift Enescu in diesem Werk zurück auf atmosphä-rische und der Natur entlehnte Klänge, teilweise lautmalerisch eingesetzt, etwa in »Der Vogel im Käfig und der Kuckuck auf der Mauer«, die jedoch andererseits durch die Verwendung von Mikrointervallen und akustisch kaum noch wahrnehm-baren Flageoletts, Glissandi sowie experimentell wirkenden Klängen kompositori-sche Neuerungen darstellen. Damit entsteht eine eindrucksvolle Synthese aus präzi-se komponierten, doch improvisiert klingenden Effekten, die in ihrer freien forma-39Vgl. Jäger, Monika: II. Sonate für Violine und Klavier op. 6 von George Enescu und Sonatine für Vio-line und Klavier von Dinu Lipatti – Gedanken zu einer vergleichenden Betrachtung, in: George Enes-cu în perspectivă contemporană, simpozioanele internaționale de muzicologie »George Enescu« 2001, 2003, Bukarest 2005, S. 43ff. 40Enescu, zit. nach Nowka, 1998, S. 57.41Vgl. a.a.O., S. 57ff. und S. 68.42A.a.O., S. 57.43Nowka, 1998, S. 91.44Zit. nach Bărgăuanu / Tănăsescu, 2000, S. 86; das Deckblatt der Partitur mit der handschriftlichen Widmung findet sich zudem abgedruckt auf der Doppel-CD »Enescu şi Lipatti interpretează Enescu şi Lipatti«, EDC 430/431; »Lui Dinu Lipatti, naşul acestei lucrări, cu nespusă recunoştinţă şi adâncă admiraţie.«